Die griechische Justiz will offensichtlich klarmachen, daß Flucht sehr wohl ein Verbrechen sei. Dafür kann es schon mal auch lebenslange Haft geben. Und die EU scheint dafür recht dankbar zu sein.
[aus akin 12/2021]
Mitte März wurden zwei afghanische Jugendliche aus dem abgebrannten Camp in Moria zu jeweils 5 Jahren Haft verurteilt. Sie sind Teil jener Gruppe von 6 Flüchtlingen und Migranten, denen vorgeworfen wird, für den Brand verantwortlich zu sein. Der Prozeß auf Lesbos fand unter strengen Sicherheitsmaßnahmen statt, Beobachter von kritischen NGOs sollten möglichst nicht dabei sein und wurden auch vor dem Gerichtsgebäude mit Verwaltungsstrafen eingedeckt. Das Wenige, was vom Ablauf im Saal bekannt ist, zeugt nicht gerade von einem fairen Verfahren. Die Website Legalcentrelesvos.org berichtet: „Der Hauptzeuge – der Sprecher der afghanischen Community – dessen Aussage zur Verhaftung der zwei Angeklagten geführt hatte, erschien nicht zum Prozess und konnte von den Behörden nicht ausfindig gemacht werden. Dennoch wurde seine schriftliche Aussage als glaubwürdig erachtet.“
Die beiden zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung 17 Jahre alt gewesenen Afghanen hätten sogar 15 Jahre ausfassen können, wurden allerdings vom Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ freigesprochen. Übrig blieb nur der Vorwurf der Brandstiftung. Die beiden waren vor dem Urteilsspruch schon ein halbes Jahr in der Untersuchungshaft gesessen — gemeinsam mit vier weiteren Beschuldigten. Diese sind nach letzten Informationen immer noch in U-Haft und sollen im Juni ihren Prozeß haben.
Haftjahrzehnte für Bootssteuermänner
Eine Jugendstrafe wegen Brandstiftung von 5 Jahren erscheint hart, ist aber im Kontext mit der griechischen Justiz im Flüchtlingsbereich zu sehen. Tatsächlich werden schon seit Jahren unter wohlwollender Beobachtung der mitteleuropäischen Regierungen und weitgehender Ignoranz der hiesigen Massenmedien Urteile wegen Schlepperei gefällt, die in ihrem Ausmaß für viele Verurteilte lebenslänglich bedeuten — und in vielen Fällen nicht einmal echte Schlepper treffen.
Bereits vor 5 Jahren nahm zumindest die deutsche Öffentlichkeit ein wenig Notiz von dieser Rechtspraxis, weil ein deutscher Pensionist in die Mühlen der Justiz geraten war. Seine Frau und er hatten in der Ägäis ein Boot, in dem sie in den Sommermonaten ihre Pension geniessen wollten, machten aber 2014 den Fehler, eine sechsköpfige syrische Familie von der türkischen Küste auf eine griechische Insel überzusetzen. Das Paar dachte sich nichts dabei, es war am hellen Tag und sie luden auf der Insel die Familie noch in einem Restaurant zum Essen ein. Für die griechische Justiz war das gewerbsmäßige Schlepperei und der damals 69jährige Pensionist wurde 2016 zu 16 1/2 Jahren Haft verurteilt. Das Strafausmaß folgt dabei ziemlich genau einer üblichen Taxe: 10 Jahre Haft als Grundstrafe plus ein Jahr pro Geschlepptem.
Erst nach zweieinhalb Jahren Haft konnte der Rentner ein Berufungsverfahren erwirken, in dem er prompt freigesprochen wurde. Hilfreich war es da wohl, daß auch die deutsche Öffentlichkeit an diesem Fall interessiert war. Bei andere Beschuldigten ist das nicht der Fall – zum Beispiel wurde im April 2021 auf Lesbos ein Syrer zu 52 Jahren Haft verurteilt. Der typische Schlepper dürfte aber auch er nicht sein: „Wie er im Prozess schilderte, floh der Angeklagte K. S. mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Syrien in die Türkei. Dort weigerte er sich, an dem türkischen Militäreinsatz im Bürgerkrieg in Libyen teilzunehmen, und wurde daraufhin inhaftiert und gefoltert. Es gelang ihm mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern weiter bis in die EU zu fliehen. Als die Familie die griechische Insel Chios Anfang März 2020 erreichte, wurde ihnen wie allen Menschen, die zu dieser Zeit in Griechenland ankamen, das Recht auf Asyl für einen Monat verweigert“ (cantevictsolidarity.noblogs.org). Daß er ein Schlepper sei, schließt das Gericht lediglich daraus, weil er das Schlauchboot gesteuert haben soll — und selbst diese Behauptung ist schlecht belegt. Damit ist er aber kein Einzelfall wie ein regelmäßiger Prozeßbobachter der NGO ‚Borderline Europe‘ erklärt: „In der Praxis bedeutet die Verfolgung von ‚Schmugglern‘, dass jemandem aus einem ankommenden Schlauchboot angeklagt wird, das Boot gefahren zu haben, ob er es nun war oder nicht. Sie werden ohne ausreichende Beweise meist noch vor Ort verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft verwahrt. Wenn ihr Fall schließlich vor Gericht kommt, dauern ihre Prozesse im Durchschnitt nur 38 Minuten, und sie werden zu hohen Haftstrafen verurteilt, in einigen Fällen zu über 100 Jahren Gefängnis mit sehr hohen Geldstrafen.“
Diese drakonischen Urteile wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ werden wohl nicht gegen Flüchtlinge gefällt, weil man sie irrtümlich für Schlepper hält, sondern, so cantevictsolidarity „stellvertretend, um die Migration nach Europa im Allgemeinen zu verurteilen“.
Das bestätigt auch das jüngste Urteil: Am 13. Mai wurde der Flüchtling Mohamad H. vom Gericht in Mytilene auf Lesbos zu 146 Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Verbrechen war laut Borderline Europe, daß er ein in Seenot geratenes und mit 34 Menschen besetztes Schlauchboot an die griechische Küste gerettet hatte: „Bei der Verhandlung erschienen acht Personen, die mit Mohamad H. im selben Boot waren, vor Gericht, um für ihn auszusagen. Sie gaben an, dass Mohamad einer von ihnen ist, der nur versucht hat, das Leben aller zu retten, dass der Schmuggler ein türkischer Mann war, der sie im Meer zurückgelassen hat und dass der Schiffbruch durch die Handlungen des Schmugglers und der türkischen Küstenwache verursacht wurde, die sie nicht gerettet hat, obwohl sie um Hilfe gerufen haben.“
Das Urteil fiel unter anderem deswegen so hoch aus, weil das Gericht der Meinung war, Mohamad H. hätte die Menschenleben seiner Mitreisenden gefährdet.
(akin)
Quellen:
https://cantevictsolidarity.noblogs.org/post/2021/03/10/untragbares-gerichtsurteil-willkurliche-verurteilung-zweier-gefluechteter-fur-den-brand-im-moria-lager/
https://taz.de/16-Jahre-Haft-wegen-Schlepperei/!5336068/
http://docplayer.org/70630124-Beitrag-deutscher-rentner-als-schleuser-zu-unrecht-in-haft.html
https://cantevictsolidarity.noblogs.org/post/2021/04/26/presseerklarung-vom-26-4-2021-skandalose-verurteilung-eines-syrischen-gefluchteten-auf-der-griechischen-insel-lesbos-zu-52-jahren-haft-prozessbeobachter_innen-kritisieren-die-kriminalisierung-vo/
https://bordermonitoring.eu/wp-content/uploads/2020/12/report-2020-smuggling-en_web.pdf
https://cantevictsolidarity.noblogs.org/post/2021/05/21/lesbos-erneute-verurteilung-eines-gefluchteten-als-schmuggler-zu-146-jahren-haft/