Ukrainekrieg: Neue Whatsaboutismen

Der Vorwurf, man würde Unrecht argumentieren wollen mit dem Unrecht anderer, ist sicher oft gerechtfertigt. Allerdings hat sich der Vorhalt des „Whataboutism“ mittlerweile zum Totschlagargument entwickelt — vor allem dann, wenn es darum geht, die Verlogenheit zu dokumentieren, die die da vermeintlich Guten so betreiben. Und deswegen gibts hier zum aktuellen Krieg einen großen Haufen Fragen, die man alle eben genau so einleiten könnte: „Putin ist böse, aber was ist eigentlich mit…?“

[aus akin 8/2022 Printausgabe]

Alle lieben Nawalny! Weniger, weil er so ein anständiger Mensch wäre — das brächte nicht sehr viel Publicity im politischen „Westen“ vulgo der „Internationalen Gemeinschaft“ –, sondern weil er Putin herausgefordert und dieser ihn dafür eingesperrt hat. Natürlich sind die Vorwürfe nicht sehr belastbar und die lange Haftstrafe übelst. Aber wie sieht denn das bei den westlichen Verbündeten aus? Ja, da könnte man wiedermal Assange erwähnen, schon deswegen, weil, säße er jetzt nicht in London sondern in Minsk im Gefängnis, weil er russische Kriegsverbrechen aufgedeckt hätte und gäbe es dazu passend ein Auslieferungsbegehren Rußlands, würden Biden und von der Leyen ständig Protestnoten für seine Freilassung nach Moskau schicken. Und niemand wüßte, wer Nawalny wäre, weil bei Märtyrern gilt das Gleiche wie bei Highländern: Es kann nur einen geben!

Aber immerhin: Assange hat noch einen gewisse Medienpräsenz. Aber es gibt ja nicht nur die USA sondern auch andere Verbündete in dieser Auseinandersetzung, zum Beispiel die Türkei, die ja laut der grünen deutschen Außenministerin jetzt wieder ein ganz toller „Partner“ ist. Schließlich sind dort Menschenrechte auch kein Problem. Man kümmert sich nämlich einfach nicht darum. Gültan Kışanak zum Beispiel, die 2014 gewählte Bürgermeisterin von Diyarbakir/Amed, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, sitzt seit 2016 im Gefängnis und wurde wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ zu 14 Jahren und drei Monaten verurteilt. Aber das wird schon seine Richtigkeit haben, denn der Sultan ist ja ein ehrenwerter Mann und die Gerichte in der Türkei seriös und unabhängig. Und was schert einen schon eine alevitische Kurdin? Wer sich für sie in Mitteleuropa einsetzt, läuft außerdem schwer Gefahr, selbst mit einem halben Fuß im Kriminal zu stehen — denn ihr wird vorgeworfen, PKK-Mitglied zu sein. Und dann kann man sehr schnell auch in Deutschland oder hierzulande wegen eines Terrorparagraphen vor Gericht landen.

Nebenbei: Kışanak ist bei weitem nicht die einzige Gefangene in der Türkei, die dank recht großzügiger Beweiswürdigung einsitzt. Die neue deutsche Regierung hat da offensichtlich nicht nur kein Problem damit, sondern ist durchaus bereit für Nachschub zu sorgen: Wie zu hören ist, werden jetzt türkische Auslieferungsanträge wieder mit sehr viel mehr Wohlwollen behandelt. (1) Non-Refoulement gilt anscheinend nicht bei Verbündeten in der Anti-Putin-Koalition.

Die arabischen Golfstaaten sind übrigens auch wieder die Guten. Denn heute kritisiert man frühere europäische Regierungen, die sich vom russischen Gas abhängig gemacht haben und deswegen Putin hofieren mußten. Das geht aber gar nicht mehr. Deswegen muß man jetzt seinen Knicks vor Saudis und anderen Scharia-Staaten in der Region machen. Die Empörung, daß es Schwulen nicht so gut ginge in Rußland verwendet man jetzt allerdings lieber nur mehr kleinlaut, weil das käme halt doch ein bisserl blöd. Nun kann man sich nur mehr über die Taliban beschweren, weil die exportieren kein Öl und kein Gas. Und daß der Einmarsch in deren Land noch weniger durch das hochgelobte Völkerrecht gedeckt war als der Überfall auf die Ukraine haben eh schon alle vergessen — ist ja auch schon 20 Jahre her.

Auch die EU selbst ist jetzt wieder weitaus geschlossener als noch vor ein paar Monaten. Waren die Regierungen Ungarns und Polens bislang ein wenig scheel angesehen ob ihrer seltsamen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten, ist jetzt alles anders. Nun darf ORF-Korrespondentin Barbara Wolschek berichten: Polen stünde „an vorderster Front der Verteidigung der demokratischen Werte“. Eh, es ist ja alles relativ!

In Deutschland wird gerade diskutiert, ob die Verwendung des Buchstabens Z als politisches Symbol verboten werden soll — weil halt das Zeichen der Angreifer in einem völkerrechtlich nicht genehmigten Krieg. (2) Gut, kann man machen. Ist auch nur fair, denn das Handzeichen, das korrekterweise bei „Slava Ukraini“ zu zeigen wäre, ist schließlich auch verboten: Man erhebe den rechten Arm, „leicht nach rechtsgewandt und etwas über Kopfhöhe“. (Das wird wohl in der Praxis ein bisserl so ausschauen, wie bei hiesigen deutschen Burschenschaftern, wenn sie winken.) Diese Vorschrift, wie man sich beim Spruch „Ruhm der Ukraine“ gestisch zu verhalten hätte, stammt aus einem Beschluß der Bandera-Fraktion der „Ukrainischen Nationalisten“ (OUN) 1941 (3), wo auch beschlossen worden ist, Stepan Bandera als „Provodnik“ (Leiter, Dirigent oder auch „Führer“) zu bezeichnen und als Symbol für Blut und Boden eine rotschwarze Fahne einzuführen — die wir jetzt wieder sehr häufig, durchaus positiv konnotiert, aus der Ukraine zu sehen bekommen. Unter dieser Fahne kämpft auch der Prawyi Sektor, dessen Führer letztes Jahr Herr Selenskij mit dem Orden „Held der Ukraine“ ausgezeichnet hat.

Sicher, viele Leute in der Ukraine kennen „Slawa Ukraini!“ nur als Maidan-Gruß. Aber der kam halt nicht von ungefähr — man stelle sich vor, eine Protestbewegung würde hierzulande mit „Si.. He..!“ grüßen und erklären, dies bedeute heute einfach nur, daß man seine Heimat so liebe, daß man diese vor der Regierung beschützen müsse. Das geht natürlich nicht durch, das liegt aber daran, daß jetzt schon Generationen im Wissen aufgewachsen sind, daß die Hitlerei ein Verbrecherregime war. Bandera gilt heute hingegen in der Ukraine als Märtyrer — so ähnlich wie bei uns vor noch nicht allzulanger Zeit Dollfuß.

Apropos rotschwarze Fahne, die in der Ukraine mit ihrer auch anarchistischen Tradition dennoch immer nur ein faschistisches Symbol war: Die kann man jetzt auch feministisch lesen. Zumindest könnte man diesen Schluß ziehen, wenn man Alina Mykhailova auf Twitter folgt. Die gibt sich dort so, daß man glauben könnte, sie wäre eine Erfindung russischer Putin-Trolle. Die junge Ukrainerin schildert im Netz, daß sie 2014 Matura gemacht hätte, und dann sogleich, neben ihrem Studium der Politikwissenschaften, in den Donbas gezogen wäre, um ihr Vaterland zu verteidigen. Dort hätte sie vor allem als Sanitäterin gearbeitet, aber auch als Kriegerin. Und dort hat sie auch ihre große Liebe entdeckt, einen Kämpfer eben des „Rechten Sektors“. Mit ihm posiert sie auch auf einem Twitter-Photo, inclusive Waffensammlung und eben jenen Fahnen im Hintergrund. Außerdem habe sie ein Stipendium für ein Auslandssemester in den USA gewonnen, wo sie sich gefreut hätte, Anne Applebaum, die akademische Ober-Anti-Putinistin, zu treffen. Jetzt habe sie ihren Abschluß gemacht, so schildert sie, und sei nun als Abgeordnete im Kiewer Stadtrat aktiv. So jemand kann doch nur von Russia Today erfunden sein, oder? Nein, leider nicht! Man findet sie nämlich auch auf den Seiten der UNO-Frauenorganisation UN WOMEN, wo sie gefeiert wird als role model für Leadership, weil sie doch so großartig die Stereotypen von Frauen bezüglich Militär und Politik in Frage stelle. (4) Was irgendwo berechtigt ist, denn Frauen waren ja bisher in faschistischen Bewegungen immer nur schmückendes Beiwerk und nur selten Anführerinnen.

Die extreme Rechte in der Ukraine tut generell alles dafür, daß Putins Argument der Nazi-Regierung glaubwürdig bleibt. So findet man auch Bilder von Roma in Lemberg (Lwow, Lwiw), wie sie mit gelben Bändern an Masten gefesselt sind, blaue Farbe im Gesicht. Auch wenn man heutzutage keinen Bildern mehr trauen kann, dürften diese echt sein, da sie in eindeutig rechten Netzwerken auftauchten, mit der Konnotation, dieses ‚Diebsgesindel‘ wäre aus Kiew gekommen, um in Lemberg weiter zu klauen, was man unterbinden wollte. Die Farbe wäre eine medizinische Tinktur, die nur sehr schwer abginge, um sie auch über längere Zeit hinweg als Diebe zu brandmarken. Offensichtlich hat dieser antiziganistische Exzeß stattgefunden und es dürften sich auch keine staatlichen Institutionen gefunden haben, die eingeschritten wären — die Faschisten hätten sich sicher bitterlich darüber beschwert. Und von unseren tollen Fake-News-Jägern und Faktencheckern war diesbezüglich auch noch nichts zu hören.

Apropos Bilder und Faktenchecker: Durch die Medien ging ein Bild von einem älteren Mann, der unter Tränen sich von einer jungen Frau, anscheinend seiner Tochter, verabschiedete, weil er sie in Richtung Westen schickte, weil er zurückbleiben mußte, um für seine Heimat zu kämpfen. Allgemein wurde das konnotiert, daß es sich dabei um einen Ukrainer handle, der gegen die russische Invasion kämpfe. RT Deutsch hingegen berichtet, dieses Photo sei schon ein paar Wochen älter und der weißhaarige Kämpfer sei ein Angehöriger der Truppen der Donezk-Republik, der seine Tochter in Sicherheit hätte bringen wollen. Beides könnte sein oder das Bild stammt überhaupt aus einem ganz anderen Zusammenhang. Eigentlich könnte es uns egal sein, aber das Bild emotionalisiert und es steht je nach Lesart für zwei Kriege, die es jeweils eigentlich gar nicht gäbe: Den Krieg des ukrainischen Staates gegen die Separatisten, den man laut Kiewer Regierung so nicht nennen solle, oder den Angriff der russischen Armee, der laut Moskau lediglich eine „Spezialoperation“ sei.

Dann könnte man vielleicht auch noch über ukrainische Oligarchen reden statt immer nur über russische — aber dieses Whatabout würden wohl den Rahmen dieses Textes sprengen. Es reicht Ihor Kolomojskyj zu erwähnen, der unter anderen das berüchtigte Asow-Regiment mit seinem Geld begründete und der auch die Mehrheit jenes Fernsehsenders gehört, der „Diener des Volkes“ als Fernsehserie herausbrachte — und später als Partei, bekanntermaßen mit der selben Frontfigur. Schließlich brauchte er endlich mal einen willfährigen Präsidenten, hatte er doch sowohl mit Janukowitsch als auch Poroschenko ziemliche Probleme.

So sieht halt „Sluha narodu“ als Partei auch aus: Die Inhalte sind eigentlich völlig unklar, Hauptsache „neu“ und „anders“ und bekannt aus dem Fernsehen. Aber es gibt doch sowas wie europäische Parteienfamilien? Naja, Teil einer „europäischen Partei“, wo die Mitglieder nicht unbedingt aus der EU kommen müssen, war „Diener des Volkes“ bis vor kurzem nicht. Bleibt also nur ein Blick auf die parlamentarische Versammlung des Europarats — und da finden sich die Abgeordneten in drei verschiedenen Klubs: Dem der EVP, dem der ALDE und dem der Konservativen und Identitären — in letzterem unter anderem gemeinsam mit den Tories, der LePen-Partei und der FPÖ. Anfang dieses Jahres erst hat ganz schnell die ALDE „Sluha narodu“ provisorisch als Mitglied aufgenommen — offensichtlich, damit diese Partei in der aktuellen Situation doch in einem besseren Licht dasteht. Das freut aber sicher auch die FPÖ, weil sonst hätte sie doch glatt mit Selenskij auch solidarisch sein müssen.

Womit wir mit unseren Whatabouts wieder in heimischen Gefilden wären. Es ist zu konstatieren, daß hier gerade eine recht interessante Form des Pazifismus um sich greift. So liest man in der Parlamentskorrespondenz: „Sobotka ging auf die tragischen Ereignisse der letzten Wochen in der Ukraine ein und betonte, dass Krieg und Gewalt nie Mittel der Politik sein können und zutiefst abzulehnen sind. Die Menschen in der Ukraine erfahren in diesen Wochen unerträgliches Leid und haben den Verlust von Menschenleben zu beklagen – ihnen sei unverzüglich zu helfen, so der Nationalratspräsident.“ Das ist der gleiche Herr Sobotka, der vor einem Monat gemeint hatte, die Ukrainer sollten zuhause bleiben und kämpfen. Wahrscheinlich sieht er darin gar keinen Widerspruch, denn die militärische Verteidigung eines Staates — also das Töten und Krepieren für die Fahne der Angegriffenen — ist für ihn wohl keine Gewalt.
Man könnte jetzt doch glatt das klassische Clausewitz-Zitat bringen. Aber nicht nur das: Krieg ist nicht nur einfach die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern Gewalt ist schlicht DAS Mittel der Politik; Krieg ist nur die extremste Ausformung davon. Und nein, mit dem Schmäh „Willst du Frieden, so rüste zum Krieg!“ mag man heut nimmer explizit daherkommen, aber implizit ist das immer noch das Grundprinzip, sonst würden ja nicht alle jetzt nach Aufrüstung schreien.

Um die Militarisierung aber so richtig durchzusetzen, braucht man schon einen attraktiven Krieg. Weil zum Beispiel der schon seit langen währende im Jemen (5) ist uns heute genauso scheißegal, wie es uns zu Zeiten der Jugoslawienkriege war, was zur gleichen Zeit in Rwanda passierte. Von der ganzen brutalen Vorgeschichte, die sich dort und in Burundi abgespielt hat, gar nicht zu reden. Naja, so ganz stimmts nicht, der Jemen kam jetzt doch in die Schlagzeilen — wegen eines Anschlags auf ein Erdöldepot in Saudiarabien, noch dazu in Dschidda, wo durch diesen verursachten Brand das dortige Formel-1-Rennen gefährdet war. Entsetzlich!!!! Anders bekommt man ja in Europa und Angloamerika keine Aufmerksamkeit als durch so ein Mini-9/11. Die darauffolgenden Bombardments der saudischen Luftwaffe, bei denen sicher mehr Menschen umgekommen sind, interessieren uns schon wieder nimmer so sehr.

Bernhard Redl

*

(1) Siehe zum Beispiel https://anfdeutsch.com/aktuelles/bingol-abschiebung-von-heybet-Sener-in-die-turkei-verhindern-31284
(2) https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ukraine-billigung-straftaten-angriffskrieg-140stgb-z-zeichen/
(3) https://www.heise.de/tp/features/Slawa-Ukraini-Poroschenko-versucht-rechtsradikale-Waehler-hinter-sich-zu-scharen-4137455.html?view=fussnoten#f_1
und
https://www.academia.edu/400549/The_Ukrainian_National_Revolution_of_1941_Discourse_and_Practice_of_a_Fascist_Movement (Seite 89)
(4) https://eca.unwomen.org/en/news/stories/2021/03/this-is-what-leadership-looks-like-alina-mykhailova
(5) Interessante Lektüre dazu: „Die fragwürdige Rolle der UN in Jemen“ von 2018 auf der Homepage der „Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen“ https://dgvn.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2018/Heft_2-2018/09_Transfeld_VN_2-2018_9-4-2018.pdf

Letzte Anmerkung: Die Bilder der gedemütigten Roma wollen wir hier weder reproduzieren noch Links zu den Quellen dieser Grauslichkeit angeben. Sollte jemand der Geschichte nachgehen wollen, so können wir diese Informationen aber bereitstellen. Mail an: akin.redaktion@gmx.at

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