Nachfolgender Text erschien in der akin am 13.Oktober 1992 und handelt von einem damaligen „Friedensmarsch“ in die bosnische Hauptstadt, ein halbes Jahr nach Beginn der Belagerung.
Die Wiederveröffentlichung erfolgt zum 30. Jahrestag des Beginns der Belagerung am 5.April 1992. Aus Copyright-Gründen fehlt aus dem Lead ein Gedicht von Erich Fried, auf das sich der Titel bezog. In diesem Gedicht geht es darum, daß Odysseus überlebt hätte, weil er sich weder auf die Seite von Scylla noch auf die von Charybdis hätte schlagen wollen. Zwischentitel wurden erst jetzt hinzugefügt, ansonsten ist der Text im Original belassen, weswegen möglicherweise aus heutiger Sicht falsche Informationen beibehalten wurden. Das Faksimile der damaligen Druckausgabe in leider sehr schlechter Qualität findet sich unter https://akinmagazin.at/Download/akin-bosnien1992.pdf
*
Odysseus war kein Bosnier
Der Friedensmarsch nach Sarajevo
von Bernhard Redl
Eine ganze Menge neuer Englisch-Vokabeln habe ich in den letzten 3 Wochen gelernt. „Shell“ zum Beispiel steht für Granate, „Curfue“ heißt Ausgangssperre, ein „Sniper“ ist ein Scharfschütze und „cease-fire“ bezeichnet einen Zustand der in diesem Krieg nie lange genug angehalten hat, um einen Friedensprozeß in Gang zu bringen: Waffenstillstand.
Ein mitteleuropäischer Antimilitarist besucht ein Land in dem seit mehr als einem halben Jahr kaum mehr jemand etwas mit diesen Idealen anfangen kann. Ein naiver Österreicher am Balkan, dessen Ruf „Frieden“ zwar begeistert aufgenommen wird, den aber niemand mehr versteht, wenn er sagt, daß sich alle militärischen Kräfte zurückziehen müssen („ja, wir wollen ja, aber die andern…“). Einer von 18 Menschen, die schlußendlich auf ihren „Friedensmarsch“ bis nach Sarajevo gelangt waren, weil sie zeigen wollten, daß zwischen dem Wegschauen und dem Befürworten einer Militärintervention auch noch andere Meinungen liegen. 5 Frauen und 13 Männer aus 6 verschiedenen Ländern des reichen Westens unter dem Namen „World Peace & Relief Team“ auf einer Gratwanderung zwischen Internationalismus und Bevormundung.
Flüchtlingscamping
Erste Zwischenstation war Zagreb. Dort wird rasch eine Pressekonferenz erledigt und nachher gleich weitergereist nach Split. In einem Flüchtlinglager, das früher mal ein Campingplatz für Badegäste war, finden wir Unterkunft und schlagen unsere Zelte auf. Was schwer genug ist, denn die Flüchtlingsfamilien, allen voran die Kinder, umringen uns bunten Haufen sofort — kein Wunder, ist doch der Alltag für die zum Nichtstun verurteilten Flüchtlingsfamilien alles andere als unterhaltsam. Viel Hoffnung gibt es ja hier nicht gerade. Die meisten Menschen wollen im Winter in ihre Häuser in Bosnien zurück, das Zeltlager wäre in dieser Zeit sowieso nicht zu halten. Wie das ermöglicht werden soll, weiß niemand so recht.
Der berühmte Glockenturm der Stadt ist mit der Fahne „Schützenswertes Kulturgut“ behangen. Denn heute ist der Krieg hier zwar weit, aber sollten wieder Luftangriffe auf die kroatische Stadt geflogen werden, so hofft man, könnte dieses Zeichen vielleicht vor der Zerstörung der historischen Altstadt schützen. Wir werden dieses internationale Symbol noch häufig auf unserer Reise sehen.
Bereits hier bekommen wir es dann zum ersten Mal mit der Staatsmacht zu tun. Hans aus Österreich, eigentlich mehr zufällig bei unserem Trupp, macht einen Spaziergang in der Stadt. Durch sein Leiberl mit dem Schriftzug „World Peace & Relief Team“ ist er deutlich erkennbar. Er wird unterwegs von zwei übereifrigen Militärpolizisten auf der Straße angehalten, festgenommen und in Arrest gesetzt. Warum, wird ihm nicht erklärt. Nach 2 Stunden wird er genauso ohne Erklärung wieder freigelassen. Die Aktion verfehlt ihre Wirkung nicht: Hans kehrt am nächsten Morgen nach Hause zurück.
Die durchmilitarisierte Gesellschaft ist hier schon deutlich erkennbar. Der Patriotismus wuchert allen Ortens. Auch in unseren Städten gibt es an Jahrmarktständen Kriegsspielzeug zu kaufen. Doch hier sind etwa vier Fünftel allen Spielzeuges militärischen Vorbildern entlehnt. Plastikpanzer mit dem kroatischen Wappen, Spielzeugsoldaten der Marke „Cro Army“ und ebensolche Schokolade wird dort verkauft. Für die Kinder im Manne gibt es phantasievolle Tarnanzüge und Leiberln mit der Aufschrift „Für die Heimat bereit — im Glauben an Gott“.
Während wir uns in der Stadt nach einer Verbindung mit dem öffentlichen Bus für die Weiterfahrt erkundigen, kommen wir ins Gespräch mit einem Mann aus der Gegend. Sein Credo: „Kroatien und Slowenien sind eine Familie, sowie Deutschland und Österreich. Ganz Mitteleuropa ist eine Familie.“ „Und die Serben?“ fragen wir ihn. Er verzieht das Gesicht. „Das sind keine Menschen, die Serben sitzen immer nur rum und lassen die Kroaten für sich arbeiten“, sagt er in gebrochenem Deutsch.
Wir nehmen nicht den öffentlichen Bus, sondern begleiten einen Transport der Caritas. Die LKWs zeigen Spuren früherer Fahrten. Schußlöcher sprechen eine deutliche Sprache. Die Fahrer bekommen 200 Deutschmark pro Fuhre — harte Devisen für harte Bedingungen.
Wir verlassen Split am 22.September vom „Platz der Polizei“ — vor ein paar Jahren hieß er noch „Karl-Marx-Platz“.
Seltsame Koalitionen
Kiseljak, 35 Kilometer vor Sarajevo. Man sieht einfach, daß der Krieg nah ist. Das Leben auf den Straßen ist zwar rege und es mangelt nicht am Notwendigsten, aber die Stadt ist voll waffentragender Soldaten, die Hauswände sind mit Graphities üblen Gedankengutes beschmiert und in manchen Läden waren die Regale auch schon mal voller, die Preise sind oft in 3 verschiedenen Währungen angeschrieben: Kroatische Dinar, Bosnische Dinar und Deutsche Mark. Am liebsten gesehen sind natürlich Mark, am gebräuchlichsten jedoch kroatische Dinar. Das eigentliche offizielle Zahlungsmittel, der bosnischen Dinar ist nicht mehr als ein Notgeld, das außer im Amtsgebrauch kaum verwendet wird, aussieht
wie Spielgeld und in Slowenien gedruckt wird. Münzen gibt es sowohl vom kroatischen als auch vom bosnischen Dinar keine — der Metallwert wäre dem Nominalwert bei weitem überlegen.
Wir hören BBC: Napalmbomben auf Sarajevo heißt ein Meldung. Später stellt sich heraus, daß — ob Napalm oder nicht — nicht Zivilbevölkerung sondern bosnische Stellung auf einem Berg nahe Sarajevo angegriffen worden waren. Kurzwelle zu hören, ist allerdings in diesem Gebiet wirklich Glücksache. Denn wenn Nachrichten über „Jugoslawien“ auf BBC, Radio Austria oder Deutscher Welle gebracht werden, ist der Empfang fast immer ab Beginn der Meldung gestört.
Eine ganze Woche bleiben wir in Kiseljak und Umgebung hängen. Mit den Menschen hier reden, Informationen einholen über die momentane Lage, Versuch der Risikominimierung für unseren Marsch kostet uns viel Zeit. Doch sind das keine leeren Tage. Dank unseres Aufenthaltes beginnen wir uns langsam in dem politischen Durcheinander zurechtzufinden. Auch wenn das meiste unbegreiflich bleibt. Ein ungeteiltes Bosnien wünschen sich die meisten Menschen in Zivil, mit denen ich spreche. Sie können zumeist gar nicht verstehen, was passiert ist. Bis vor kurzem war es völlig egal, welcher ethnischen — oder besser vielleicht religiösen — Gruppierungen einer angehörte. Oft wußten gute Freunde von einander nicht einmal, ob der andere der katholischen, orthodoxen oder moslemischen Religionsgemeinschaft angehört. Es war egal und sonderlich bigott waren auch die wenigsten Menschen hier. Jetzt ist alles ganz anders.
Dennoch werden „die“ Serben (also Belgrad, Banja Luka oder Milosevic, Karadzic) für den Krieg verantwortlich gemacht. Eine ganz eigenartige Koalition hat sich gegen den „Aggressor“ gebildet. Die Regierungen in Zagreb und Mostar, Hauptstadt des kroatischen Satelitenstaates auf bosnischen Gebiet „Herzeg-Bosna“, haben es vorzüglich verstanden, die kroatischen Einheiten als „Verteidiger Bosniens“ zu stilisieren. So kämpft gegen die Serbischen Truppen in diesem Gebiet die bosnische Territoritalverteidigung, die sich jetzt „Armee von Bosnien und Herzegowina“ nennt und aus allen ethnischen Gruppierungen zusammengesetzt ist, gemeinsam mit der „Kroatischen Verteidigungsarmee“ (HVO), der offiziellen Armee Herzeg-Bosnas, und der Parteimiliz HOS, die Paraga, dem Anführer der großkroatisch-orientierten „Kroatischen Rechtspartei“ (HSP) untersteht. Besonders bizarr erscheint die Tatsache, daß ausgerechnet die HOS aus 30 bis 40 Prozent Muslimen besteht. Dies ist daraus erklärbar, daß die HOS als erste schlagkräftige Truppe in diesem Gebiet gegen die Serben operierte, was eine Vielzahl der bedrängten Muslime dazu veranlaßte, sich einer Miliz anzuschließen, die in ihren Grundsätzen nicht unbedingt den Minderheitenschutz verankert hat. Aber auch die HVO ist alles andere als ein multi-ethnischer Verein. Die politische Führung in Mostar scheute sich laut Zeitungsberichten kaum ihre nationalistische Haltung zu zeigen und verhängte für Muslime in Herzeg-Bosna eine Visa-Pflicht. Ein Mitarbeiter der offiziellen „Friedensbewegung“ in Sarajevo später einmal darauf angesprochen sollte meinen, man habe von solchen Vorfällen gehört und man hoffe halt, daß sich solche Dinge in Friedenszeiten doch wohl wieder legen werden.
Doch die Friedenszeiten sind wohl so nicht allzunah. Die Folgekriege haben schon begonnen. An manchen Grenzübergängen zwischen der „Serbischen Republik Bosnien“ und Bosnien und Herzegowina (allerdings mit einem Checkpoint unter der Flagge Kroatiens) sind oft schon seit längerem keine Kampfhandlungen mehr gewesen. Im Niemandsland zwischen den Gebieten von Kiseljak und dem serbischen Ilidza patroullieren sowohl serbische als auch kroatische Soldaten, ohne übereinander herzufallen. Frieden ist aber dennoch nicht zu erwarten. Muslime, die — wahrscheinlich zu Recht — keiner der beiden Seiten trauen, haben ihre eigenen Milizen aufgestellt und sehen sich laut Berichten der UNPROFOR von Einheiten beider Kriegsparteien zugleich unter Feuer genommen. Sloweniens Außenminister Dimitrij Rupel sprach schon im Juli bei einer Pressekonferenz von einem Krieg „zwischen zwei Nationen, Kroatien und Serbien auf dem Gebiet einer dritten. Die Muslime sind dazwischen gefangen und werden von beiden Seiten unterdückt.“ Wenn sich diese Form der „Einheitsfront“ der feindlichen Brüder, von serbischen und kroatischen Bosniern durchsetzt, werden die Milizen der muslimischen Bosnier bald aufgerieben sein. Aber auch dann ist wahrscheinlich noch nicht Ruhe. Einer der wenigen kritischen Menschen, die wir in Kiseljak getroffen haben, sagt: „Wenn dieser Krieg vorbei ist, dann beginnt der Krieg zwischen HVO, HOS und der bosnischen Armee.“
Die serbische Seite dürfte verschiedenen Quellenzu Folge tatsächlich zum Großteil aus bosnischen Serben bestehen, allerdings unterstützt materiell und zeitweilig auch mit Truppen und Luftwaffe von der früheren Bundesarmee. Wäre diese voll in den Konflikt involviert, wie das von kroatischer Seite immer wieder angedeutet wird, hätte die vormals viertgrößte Armee Europas den Konflikt längst schon für sich entschieden, meinen auch ernstzunehmende Militärexperten.
Wenn man sich die ethnische Karte Bosniens ansieht, fallen einem zwei Dinge auf: Erstens sind die Siedlungsgebiete wirklich kaum eindeutig einer Volksgruppe zuzuordnen, zu stark sind die Verflechtungen. Etwa 6% haben sich 1991 überhaupt als „Jugoslawen“ deklariert. Die meisten anderen Menschen haben zwar für eine Ethnie optiert, können aber auch keinen „ethnisch sauberen Stammbaum“ vorweisen. Und zweitens liegen gerade jene Städte, die uns aus den Nachrichten als Kriegsschauplätze bekannt sind, Sarajevo, Gorazde, Foca, Visoko, Zenica, Jajce, Bihac, Tuzla und Mostar in Gebieten mit einer Bevölkerungsmehrheit muslimischen Glaubens. Einzig das Gebiet um Bosansky Brod ist einigermaßen gleichmäßig durchmischt und erscheint haupsächlich wegen seiner strategisch wichtigen Lage so umkämpft. Die Gegenden wo es klare kroatische oder serbische Mehrheiten gibt, sind zumeist schon eindeutig ihrer jeweiligen „Schutzmacht“ zugeordnet.
Mißverständnisse
Immer wieder besuchen uns auf unserer Lagerwiese in Kiseljak Journalisten. Die wenigsten von ihnen wollen uns wirklich interviewen oder über uns berichten, die meisten wollen uns einfach mitteilen, daß es Wahnsinn sei, Selbstmord, was wir vorhaben. Einer von ihnen, ein Brite, trägt ein T-Shirt mit der englischen Aufschrift „Ich überlebte Sarajevo ’92“. Es wird nur am TV-Center in Sarajevo für 20 US-Dollar verkauft. Sie seien immer wieder beschossen worden, erzählen sie. Auf zerschossenen Reifen hätten sie sich immer wieder in sichere Gebiete retten müssen. BBC und andere Gesellschaften fahren die Strecke von Kiseljak nach Sarajevo nur im Panzerwagen. Angesichts der Schilderungen wird mir mulmig. Später dann sollte ich begreifen, daß Journalisten erstens dazu neigen, die Gefahr zu überstilisieren, um ihren Marktwert zu erhöhen, und zweitens durch ihre mit „TV“ und „Press“ weithin erkennbaren Autos tatsächlich bevorzugte Ziele der Heckenschützen sein dürften.
Unser Versuch, den geplanten „Peace Walk“ nun von Kiseljak nach Sarajevo endlich zu verwirklichen, endet dann am serbischen Posten. Die serbische Seite ist wohl kaum besser oder schlechter als ihr Vis-a-vis. Denn wenn sie auch den Krieg tatsächlich angefangen haben, so dürfte ihr schlechtes Image hauptsächlich darauf zurückzuführen sein, daß sie die schlechteren Propaganda-Maschinerie haben. Das sogenannte „Pressebüro“ in Kiseljak hat sich uns gegenüber immer sehr kooperationsbereit gezeigt und uns mit Agitationsmaterial versorgt. Nie hatten wir tatsächlich Schwierigkeiten an kroatischen Checkpoints.
Die serbische Regionalkommandatur hat hingegen eine Politik des Zumachens und Versteckens gegenüber neugierigen Ausländern — was durch die Berichterstattung in westlichen Medien sicher noch verschärft wurde. So werden wir angehalten und nicht weitergelassen. Man teilt uns mit, daß man für unsere Sicherheit nicht garantieren kann. Wenn uns wirklich etwas passierte, würde die ganze Welt sagen, es wären die Cetniks gewesen. Auf unser Drängen wird uns schließlich nach mehreren Tagen angedeutet, daß man ja nicht sicher sein könne, daß nicht ein Spion in unserer Gruppe wäre. Das Einzige, was uns gewährt wird, ist, daß wir mit Privat-PKWs und einer Polizeieskorte durch serbisches Gebiet fahren dürfen. Stehenbleiben und aussteigen auf dem Territorium der „Serbischen Republik Bosnien“ ist uns verboten, geschweige denn zu übernachten oder zu marschieren, wie wir es geplant hatten. Ein wichtiger Teil unserer Mission, nämlich auch mit Menschen auf serbischem Territorium zu sprechen und damit auch unsere Neutralität zum Ausdruck zu bringen, ist damit gescheitert. Wir müssen uns fügen, wollen wir nicht riskieren, als Spione in Kriegsgefangenschaft zu geraten und passieren am 1.Oktober den serbischen Checkpoint in 2 Kleinbussen.
Doch man zeigt sich zumindest wohlgesinnt am Wachtposten. Mehr weil ein schwachsinniger Befehl einer mißtrauischen Kommandatur befolgt werden muß, denn aus wirklicher Überzeugung werden unsere Busse gefilzt. Ein Cetnik mit stilecht langen Federn bekommt als Geschenk ein Leiberl vom World Peace & Relief Team, zieht es an, posiert damit vor der Kamera und begibt sich in dieser Kostümierung wieder an seinen Dienst am Grenzposten — er dürfte die Botschaft allerdings genausowenig verstanden haben, wie seine kroatischen Pendants in Kiseljak, die sich zusammen mit uns fotographieren ließen.
Von Ilidza sehe ich nicht viel. Hinten im Fonds des Wagens sind wir sicherheitshalber in Deckung gegangen. Von den Fahrern lasse ich mir erzählen, daß dort stellenweise ziemliche Zerstörungswut Raum gegriffen hat.
Pazi Snaiper!
Sarajevo. Erster Eindruck: Viele Verwüstungen, kaum ganze Fensterscheiben, sehr viele ausgebrannte Häuser, Löcher von Granateinschlägen. Es ist mal eine schöne Stadt gewesen, das sieht man ihr heute noch an. Im Altstadtviertel mit seinen vielen kleinen Läden ist so gut wie kein Betrieb mehr, kein Wunder, sind doch die Gassen von den Bergen aus sehr gut einsehbar. Gebäude mit der Rotkreuzflagge scheinen bevorzugte Angriffsziele zu sein. Zufall? Kaum. Berechnung, Bestialität? Ich weiß es nicht.
In der wichtigsten Westeinfahrt stehen zerstörte Straßenbahngarnituren auf ihren Geleisen. Hier gibt es ein Wasserrohr, eines der wenigen, das noch Trinkwasser transportiert. Die Menschen stehen an einer undichten Stelle Schlange, um ihre Kanister zu füllen. Die Straße hat bei den Journalisten den Spitznamen „Snipers Avenue“. Hier ist der Blick von den Bergen durch keine Häuser verstellt. Ein Scharfschütze hat hier leichtes Spiel. Dennoch stehen die Menschen um Wasser an. Täglich sterben von den etwa 400.000 Leuten in der eingeschlossenen Stadt etwa 10, sagen unüberprüfbare Statistiken. Man hat sich an den täglichen Tod gewöhnt, kann sich die Wahrscheinlichkeit ausrechnen. Und er kann einem an jedem Ort ereilen. Einer Kugel oder einem Granatsplitter kann man im Freien fast überall zum Opfer fallen. Das Leben muß weitergehen und die alltäglichen Dinge müssen zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang erledigt werden, denn Strom gibt es keinen und in der Nacht ist Ausgangssperre.
Auch wir lernen rasch, uns in der Stadt zu bewegen. An manchen Hausecken kleben Zettel: „Achtung, Heckenschütze!“ steht da auf kroatisch. Dann weiß man, man sollte diese Kreuzung zügig überqueren und nicht stehenbleiben, um nicht ins Zielfernrohr eines Snipers zu geraten. Überhaupt sollte man sich nicht allzulange im Blickfeld der Berge aufhalten. Laufen ist aber nur bei großen Plätzen wirklich nötig.
Die Versorgungslage ist in dieser Stadt allerdings wirklich katastrophal. Strom gibt es — bis auf kleine Notaggregate — keinen. Das zentrale Elektrizitätswerk wurde vor kurzen endgültig zerstört. Die Trinkwasserversorgung aus den nun serbisch kontollierten Bergen der Umgebung existiert praktisch nicht mehr.
Die einzigen Lebensmitteltransporte in die Stadt kommen von der UNO. Was tatsächlich an die Leute kommt sind Mehl, Reis und Makkaroni. Alles andere kassieren die Cetniks als Gebühr für die Passage oder es findet sich am Schwarzmarkt in Sarajevo wieder. Dort kostet ein Kilo Fleisch 35 Deutschmark. Ja, selbst in Kiseljak, wo die kroatische Caritas ihr Lager hat, kann man in den Geschäften Zucker und Speiseöl aus Österreich kaufen. Die „Kinderbotschaft Sarajevo“ — eine Organisation, die es seit mehr als einem Jahr gibt — beklagt vor allem, daß der Vitaminmangel vor allem die Kinder schwer treffen würde.
Diese Kinderbotschaft agiert nicht unbedingt im Staatskonsens. Sie beklagt sich darüber, daß ihre Mitarbeiter immer wieder Festnahmen und Hausdurchsuchungen durch die bosnische Staatsmacht hinnehmen müßten. Sie hatten immer davor gewarnt, daß diejenigen, die auf der Welt nie wirklich eine Lobby haben, die Kinder, in Zukunft so aussehen werden wie das Maskottchen der Organisation: Ein Holzpüppchen, mit dünnen Gliedmaßen, wenigen, sich vor Angst zu Berge sträubenden Haaren, einem hungrigen Blick und einem Kettenhemd als Schutz. Heute sehen sie diese Zukunft gekommen und wollen als „Botschafter“ die Rechte der Kinder erkämpfen. Solange Krieg ist, sehen sie daher keine Zukunft für d
ie Kinder in dieser Stadt und versuchen soviele wie möglich zu evakuieren. Plätze im Ausland wären vorhanden. Auch wäre der serbische Belagerungsring nicht das Problem. Nur die bosnischen Behörden machen bei Versuchen, die Kinder rauszubringen, Schwierigkeiten und stellen nur sehr selten für die Transporte Passierscheine aus. Sie sagen, sie wollten eine Garantie, daß den Kindern unterwegs nichts passiere. Ein Versprechen, daß natürlich so nicht zu geben ist, angesichts der Kriegssituation. Tatsächlich dürften die offiziellen Stellen jedoch deswegen bocken, weil sie meinen, daß dies genau im Kalkül der Serben läge, die Stadt zu entvölkern. Damit mag die Regierung vielleicht sogar recht haben, gesteht man bei der Kinderbotschaft zu, nur will man dort nicht einsehen, warum die Kinder für die Kriege der Erwachsenen büßen müßten.
Verschiedene Wahrheiten
Eine weitere Gruppe unserer Gesprächspartner ist die bereits erwähnte „Friedensbewegung“ in Sarajevo. Ausgesprochen kritisch ist diese nicht gerade. Sie hält in offiziellen Äußerungen den bosnischen und kroatischen Truppen die Treue. Ein Wunder ist es nicht. Wer 6 Monate lang unter dem Beschuß mit Munition der einen Seite und mit Propaganda der anderen Seite steht, dem kann es kaum mehr möglich sein, neutral zu bleiben. Nur zu verständlich ist die Parteinahme für die „Verteidiger“ der Stadt. Das letzte Quentchen Kritik allerdings dürfte dieser offiziellen Friedensbewegung die Umarmung durch die Staatsmacht gekostet haben. Ihren Sitz hat sie nun in einem Glaspalast, der früher zur Beherbergung von KP-Organisationen gedient hatte, ihr Präsident, Ibrahim Spahic, ein sehr beredter Politiker, hat mittlerweile sein Büro im Rathaus. Ein offizielles Transparent des „International Peace Center“ schmückt eine der wichtigsten Straßen im Stadtviertel.
In einer Ausgabe ihres englischsprachigen Magazins „WHY“ werden die selben serbischen Internierungslager angeführt wie in einer Aussendung der bosnischen Regierung. Die kroatisch-bosnischen Lager aber werden dort mit keiner Silbe erwähnt. In Österreich weiß man von diesen Lagern erst seit dem Bericht der Grünen Marijana Grandits im September.
Die Frage stellt sich daher, ob diese Friedensbewegung darüber schweigt, weil sie keinen Zweifrontenkrieg führen möchte, oder ob sie wirklich nicht Bescheid weiß, was angesichts der zerstörten Kommunikationsmöglichkeiten nicht einmal ein Wunder wäre.
Aber wenn auch in größeren Auditorien kaum jemals skeptische Töne von Spahic und Genossen laut werden, lenkt man im persönlichen Gespräch nach langem Bohren doch etwas ein. Mit Tudjman und seiner HDZ könne man nicht wirklich etwas anfangen, man hoffe, daß sich Übergriffe in kroatisch oder moslemisch kontrollierten Gebieten legen würde und versicherte, daß man in Friedenszeiten wohl auch eine andere Politik gegenüber kroatischen oder bosnischen Militär machen würde.
In einer schmalen Gasse der Altstadt sehe ich Einschüsse einer automatischen Waffe in der Wand. Unmöglich können sie aus den Bergen stammen. Allen Anschein nach hat der Schütze von der anderen Straßenseite geradewegs auf die Häuserfront geballert. Von den Friedensbewegten lasse ich mir erklären, daß diese und andere Schußlöcher vom Rückzugskampf der Volksarmee stammen müßten. Am 2.Mai hätten die Besatzungen der JNA-Kasernen die Kontrolle über die Stadt übernehmen wollen, wären aber von der schlechter bewaffneten, aber gut motivierten Territoritalverteidigung vertrieben worden. Das sei auch der Grund für die wenig intensive Kriegsführung. Nach dem 2.Mai sei kein „Blitzkrieg“ mehr möglich gewesen, worauf sich die Serben auf den Terror verlegt hätten, um der Welt den Eindruck zu vermitteln, hier handle es sich um einen Bürgerkrieg. Straßenkämpfe im Sinne von Bürgerkrieg innerhalb der Volksgruppen Sarajevos habe es aber nie gegeben. Überhaupt gäbe es keine Spannungen zwischen diesen Gruppen in der Stadt.
Eine alte Frau, Serbin, die wir über sehr umwegige Kontakte kennenlernen, hat anderes zu schildern. Sie ist sehr verschüchtert, und kann nur mit gutem Zureden zum Erzählen gebracht werden. Und auch da drückt sie sich nur sehr ungefähr aus. Sie spricht von „unkontrollierten Gruppen, Extremisten“, die in der Stadt Identitätskarten kontrollieren. „Menschen mit dem falschen Glauben kann es passieren, daß sie verhaftet werden“, sagt sie. Genau das ist ihr nämlich passiert. Und weiter: „Es kommt vor, daß solche extremistischen Gruppen in Häuser eindringen. Diese Vorfälle sind aber offiziell nicht geduldet.“ Wen sie genau damit meint, ist aus ihr nicht herauszubringen. Klar wird nur, daß es sich um die berüchtigte Geheimpolizei oder Armee-Angehörige handeln muß, da andere wohl kaum jemand verhaften können.
Deutlicher wird sie dann in der Frage, wen sie für den Krieg verantwortlich macht: „Herr Kohl, Genscher, Mock haben uns schön was eingebrockt, diese lieben Herren“. Dadurch, daß Kroatien so früh anerkannt worden ist, habe man erst über eine Aufteilung Bosniens in Nationalitäten nachgedacht. „Bei den Wahlen vor dem Krieg haben dann die meisten die Nationalitätenparteien gewählt, leider. Diese Herren wußten nichts von der Situation hier, haben immer nur dreingeredet.“
Wir fragen die alte Frau nach einem serbisch-orthodoxen Priester, dem wir ein Medikamentenpaket übergeben könnten. Kroatische und Bosnische Spitäler haben ja schon genug von uns bekommen. Sie kann uns nicht damit dienen. Es gibt keine orthodoxen Priester mehr im bosnisch kontrollierten Sarajevo. Sie sind alle auf serbisches Gebiet gewechselt.
Einschläge
Am Montag morgen wird es laut. Sehr nah unserer Unterkunft schlagen Granaten ein, viele Einzelschüsse. An der Grenze zwischen dem serbisch kontrollierten Südwestteil der Stadt und dem Zentrum wird gekämpft. Scheiben gehen hörbar nahe zu Bruch. MG-Feuer von fern, möglicherweise von bosnischen Stellungen. Das Hotel Holiday Inn, ein Journalistenstützpunkt, brennt. Die Luft ist an diesem trockenen, warmen Oktobertag überall in der Stadt rauchgeschwängert. Man riecht den Krieg viel stärker als bisher. Heute wollen wir unsere Kundgebung in der Stadt machen. Man hatte uns oftmals vorgewarnt. Es sei Wahnsinn in der Stadt demonstrieren zu wollen. In Sarajevo wären Serben mit Funkgeräten, die den Männern an den Granatwerfern in den Bergen genau sagen würden, wo viele Menschen sind, damit diese ihre Geschütze danach ausrichten. Wir zögern. Unsicherheit macht sich breit. Schließlich fahren wir doch auf den Marktplatz, halten unsere Kundgebung ab. Nichts passiert. Auch wenn sie es uns nicht sagen können, weil wir ihre Sprache nicht verstehen, so scheint die Menschen doch unsere Botschaft „MIR“ zu erfreuen. Allerdings ist zu befürchten, daß sie die Forderung nach „Frieden“ nur so verstehen wie die „Friedensbewegung“ das tut — als Forderung nach einem Rückzug der Serben oder der militärischen Intervention der UNO. Aber wer sind wir schließlich, die hier nicht leben müssen, daß wir andere, die seit einem halben Jahr leiden, glauben, bevormunden zu dürfen?
Rückkehr
Dienstag, 6.Oktober. Anstandslos können wir privilegierten Ausländer wieder die bosnische Hauptstadt verlassen. Nur die üblichen Filzereien der serbischen Wachposten müssen wir über uns ergehen lassen. Wieder nach Kiseljak gekommen, bleibt uns ein Kulturschock erspart. Inzwischen ist auch in diesem friedlichen Städtchen das Stromnetz zusammengebrochen. Am nächsten Tag geht es mittels Kleinbus schon Richtung Heimat, wieder zurück über kriegsbedingt neu angelegte Staubstraßen, die vor einem halben Jahr gerade Wanderwege gewesen waren. Viele Spuren von Tod und Vertreibung auf der Strecke. Nahe Konic, etwa 30 Kilometer von Kiseljak entfernt, ist ein muslimisches Viertel durch das wir kommen, vollkommen entvölkert. Jedes Haus ist zerstört. Unser Fahrer sagt, daß wären serbische Bomben gewesen. Tatsächlich sind wirklich alle Häuser entlang der Straße ausgebrannt und die Dächer, früher getragen von hölzernen Balken, zusammengebrochen. Nur die Schornsteine stehen noch. Es sieht sehr nach Brandstiftung aus. Unser Fahrer ist kroatischer Soldat.
Wir kommen an in Split — die mitteleuropäische Zivilisation hat uns wieder, die Läden sind voll, die Scheiben sind ganz, aus den Wasserleitungen kommt Wasser, die Telefone funktionieren, die Autos fahren bei Nacht mit Licht. Wir sind wieder zurückgekehrt in die Welt der vollen Bäuche…
###