Ein Rundumschlag in Sprichwörtern, Redewendungen und Zitaten
[aus akin 11/2022 Printausgabe]
In einem Facebook-Dialog habe ich neulich einen bemerkenswerten Satz gelesen. Eigentlich eine freudsche Fehlleistung: “Das Selbstbestimmungsrecht gilt für alle Staaten.” Ja, eben! Normalerweise sagt man ja nicht “Staaten”, sondern “Völker”! Aber die Völker sind scheißegal, die Völker werden über die Staaten definiert, nicht umgekehrt.
Denn wie so ein Staat geformt ist, hängt damit zusammen, wer welchen Krieg gewonnen hat, wer welche mächtige Verbündete hatte oder sogar wer wen heiratete in früheren Jahrhunderten. Irgendwann wird das dann fixiert und man hat einen Staat, wo man dann auch ein Staatsvolk definiert. Und was da nicht paßt, wird passend gemacht. Denn ein Volk, eine Staatsnation sind immer die Leute mit der selben Sprache. Und eine Sprache ist nunmal ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte, wie das Max Weinreich (ausgerechnet auf Jiddisch) formulierte. Und einer Fahne und einer Hymne, sei noch dazu gesagt. Man braucht ja was fürs Gemüt, um diesen Unsinn auch schlucken zu können.
Schon klar, ich kriege auch bei Hansis Cordoba-Siegestor inclusive Edi Fingers “I wer narrisch!” nationalistische Wallungen und fühle mich nicht als Piefke — schließlich gibt es von der patriotischen Indoktrination kaum ein Entkommen und man hat da einen Banal-Antifaschismus als Ausrede. Aber letztlich ist es dem Zufall, diversen Partikularinteressen und den Wirren der Geschichte zu verdanken, daß Wien nicht in einem irgendwie definierten und verfaßten deutschen Staat liegt.
Wenn sich ein paar Leute in einem Gebiet aber einbilden, sie seien ein anderes Volk als die Nachbarn und einen eigenen Nationalstaat aufmachen wollen, gilt das nur, wenn sie von den richtigen Staaten “anerkannt” werden. Sonst sind es “selbsternannte” Staaten. Merke: Nur fremdbestimmt ist selbstbestimmt bei den Völkern.
Das Nationale
Wir sind das Volk! Aber was ist das Volk? Oder EIN Volk, wie das dann in der eingehenden DDR hieß. Denn “Volk” kann viel sein – Ethnie, Bevölkerung, die Gesamtheit der Wahlberechtigten. Zusammengemixt ist das dann die “Nation”, auf der der Nationalstaat begründet.
Der Nationalstaat war tatsächlich mal ein revolutionäres, demokratisches Konzept — die Menschen mit einer gemeinsamen Muttersprache sollten einen Staat bilden, um sich in dieser Sprache alles selbst ausverhandeln zu können, anstatt Untertanen in Reichen zu sein, die von Feudalherren zusammengeraubt worden sind. (Zumindest galt das für das Bürgertum, das Proletariat war im 19.Jahrhundert noch nicht mitgemeint.)
Dieser so demokratische Nationalstaat muß aber auch verteidigt werden. Die Frage: ‘Ist er es denn wert?’ ist verpönt. Das vom ‘Manifest der Kommunistischen Partei’ erwähnte ‘Gespenst’ war ja nicht einmal so sehr wegen dem erhofften Sprengen der Ketten der Proletarier gefürchtet, sondern wegen der Feststellung, daß der Arbeiter kein Vaterland habe. Deswegen waren ja bei den hohen Herren ein paar Jahrzehnte später lieber die Sozialdemokraten geduldet, denn die wollten zwar auch diesen schändlichen Sozialismus, aber wenigstens waren sie Patrioten. Und daher bereit, die Oligarchen im eigenen Land positiver zu sehen als die in einem anderen.
Jedoch sind die Zeiten vorbei, als der Fürst noch sagen konnte: “Der Staat bin ich!” Okay, im Vatikan gilt das noch, da ist der Papst selbst das Völkerrechtssubjekt, aber das ist wirklich eine Ausnahme. Aber sonst? Der Staat sind heute doch wir alle! Oder? Noch so ein Irrtum! Oder haben wir keine Regierung mehr, beschliessen jedes Gesetz per Volksabstimmung und dürfen alle Geld drucken? Das ist das Hinterhältige an unseren heutigen Demokratien — gerade weil wir unsere Herren (oder genauer: deren Stellvertreter) selber wählen dürfen, haben wir kein Recht, gegen sie aufzubegehren. Das wäre nämlich undemokratisch. Die Herren bleiben aber doch Herren und die verlangen Gehorsam. Denn es sind eben doch die Eliten, nein, nicht des Geistes, sondern der Macht und des Geldes, die regieren respektive regieren lassen.
Ach, die Sachzwänge
Regieren ist ein Rendezvous mit der Wirklichkeit. Schon wieder so ein Spruch der intellektuellen Apologeten der Mächtigen! Prinzipiell stimmt er ja, aber intendiert, auszusagen, daß politische Forderungen mit Sachzwängen konfrontiert seien. Doch die Sachzwänge sind konstruiert, es sind nur die Interessen der Mächtigen, die den Untertanen als Notwendigkeiten verkauft werden. “Sie dachten, sie wären an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung”, heißt es bei Tucholsky. Die Not dieser “Regierenden” ist nicht das Brandt’sche Bohren harter Bretter, sondern eher Hamlets Dilemma: “So macht Bewußtsein Feige aus uns allen; / Die angeborne Farbe der Entschließung / Wird durch des Gedankens Blässe angekränkelt; / Und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll, / Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, / Verlieren so der Handlung Namen.” Natürlich handelt das Shakespeare-Zitat von der Idee des Freitods, aber man könnte damit auch das Verhalten von Politikern beschreiben, wenn sie bemerken, daß sie mit Kräften konfrontiert sind, die keinerlei demokratische Legitimation haben, dafür aber umso mehr Macht. Und wer die Macht hat, hat das Recht — das wurde von Ton-Steine-Scherben zwar als Anklage formuliert, ist aber einfach die Realität und stammt eigentlich von Spinoza. Und der hats wohl auch woanders abgeschrieben, denn letztlich ist es eine Binsenweisheit. Nur soll man die nicht verbreiten, weil sonst das Recht seiner hehren Gloriole abhanden kommt und das kann ja schließlich niemand wollen.
Wer kann, der kann
Aber woher stammt diese Macht? Die Fürsten früherer Jahrhunderte haben behauptet: Aus dem Gottesgnadentum. Der moderne Geldadel sieht seine “Leistung” dafür verantwortlich. Tatsächlich aber resultiert die Macht immer aus der primären Akkumulation, also aus dem Verbrechen, das in vielen Fällen sogar schon Jahrhunderte her sein mag oder in modernerer Zeit zumeist auch völlig im Einklang mit dem Gesetzen steht. Womit wir wieder beim Recht sind, sprich beim Diktum von Spinoza und TSS.
Und so ist das halt auch mit dem Völkerrecht. Wer kann, der kann, sagt eine alte bayrische Weiheit (zumindest laut Benno Berghammer). Siehe zum Beispiel Internationaler Gerichtshof und Weltsicherheitsrat. Der Internationale Gerichtshof — sofern er überhaupt anerkannt ist von den jeweils konfliktbetroffenen Staaten — kann schöne Urteile fällen. Hat aber keine Möglichkeiten, diese durchzusetzen. Der Weltsicherheitsrat kann Entschließungen herausgeben, um Staaten ein sogenannt “völkerrechtliches” Plazet für einen Militäreinsatz zu geben. Dessen Entscheidungen beruhen aber nur formal auf der UN-Charta, faktisch aber darauf, ob sich die ständigen Mitglieder einig sind. Das ist auch nur logisch, denn diese Mitglieder sind zufälligerweise die gleichen, die (wenn man mal den komplizierten Sonderfall China außer acht läßt) zu den Gründungszeiten auch die militärisch mächtigsten waren und auch die einzigen, denen eben dieses Völkerrecht den Besitz von Atomwaffen zugesteht. Angelegenheit des Weltsicherheitsrates ist nicht die Vermeidung von Kriegen und schon gar nicht jenes angebliche Selbstbestimmungsrecht, sondern die Ermöglichung von Kriegen bei gleichzeitiger Vermeidung eben eines Dritten Weltkriegs. Aber auch die Beschlüsse des Weltsicherheitsrats kann man geflissentlich ignorieren, wenn man mächtig genug ist und davon ausgehen kann, daß die Vetostaaten trotzdem keinen Weltkrieg riskieren wollen.
Mit anderen Worten: Völkerrecht gibt es schon, aber es unterliegt eben mit einem Wort Georg Jellineks der “normativen Kraft des Faktischen”, also eben den Machtverhältnissen. (Okay, ist vielleicht gemein, ausgerechnet mit dem Staatsrechtler Jellinek daherzukommen, aber als jemand der naturrechtliche Positionen ablehnte, könnte er dieser Verwendung der von ihm geprägten Wendung kaum glaubhaft widersprechen.)
Was wäre dann ein wirkliches Recht der Völker? Eigentlich würden da die Menschenrechte reichen, nämlich, daß die Völker, oder eben die Einzelmenschen, aus denen all diese Völker bestehen, ein Recht darauf hätten, in Frieden zu leben, nicht ausgebeutet oder umgebracht und auch nicht verhetzt und zu Mördern gedungen zu werden, weil es irgendwelchen Mächtigen gerade so paßt.
Vaterlandsliebe ist auch nur eine Droge
Noch eine letzte Paraphrase sei erlaubt: “Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr encyklopädisches Compendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. … Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.” Das schrieb Karl Marx 1844, als Religion als einigendes Band für die Macht noch wichtiger war als die gerade aufkommende Idee der Nation. Heute können wir guten Gewissens “Religion” mit “Patriotismus” ersetzen. Dann stimmts wieder.
Nein, Kästner bemühe ich diesmal nicht, weil der wäre ja hier aufgelegt. Aber es ist schon so: Die Welt funktioniert, wie sie funktioniert, weil wir (die “Völker”, sprich: die Untertanen) uns nicht nur verarschen lassen, sondern letztlich selbst verarschen, damit unsere Ohnmacht ein wenig erträglicher wird. Deswegen glauben wir halt an das mit den Völkern, der Demokratie, dem Recht und dem Staat.
Bernhard Redl