Vergib uns unsere Schulden und verschone uns von europäischen Werten, Amen!
Manchmal sagt auch Karl Nehammer etwas prinzipiell Richtiges. Und zwar sogar bezüglich einer Verteidigung von Viktor Orban. Nämlich, daß dieser in der Frage des Handels mit Rußland als ungarischer Premier natürlich zuerst dazu verpflichtet sei, die Interessen seines eigenen Landes zu vertreten. Nun stimmt es natürlich, daß die einzigen Interessen, die Viktor Orban wichtig sind, eben die von Viktor Orban sind, und auch daß die diversen ÖVP-Bundeskanzler den Reichsverweser aus dem Nachbarstaat generell nicht gar so streng beurteilen. Aber die Idee an sich ist richtig!
Wir wählen in den EU-Staaten Parlamente und diese Volksvertreter sollen sich dann um das Wohlergehen ihrer Wahlberechtigten kümmern — tun sie zwar meistens nur bedingt, und Regierungsbildungen haben nur sehr wenig mit dem angenommenen Volkswillen zu tun, aber das ist eine andere Frage. Sicher ist aber eines: Sie wurden nicht in erster Linie bestellt, um sich darum zu kümmern, was denn der Wille anderer, mächtigerer Regierungen ist. Im Gegenteil: Die Machtinteressen in Washington, Brüssel, Berlin oder Paris haben in Budapest oder Wien einfach von sekundärem Interesse zu sein, wenn das bedeutet, daß die eigene Bevölkerung dafür im nächsten Winter frieren soll.
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Dieses Zitat aus der Dreigroschenoper wird gerne mißbraucht, wenn man jemand einen Vorwurf machen will. Tatsächlich ist das aber nur eine Kurzformel der Maslowschen Bedürfnispyramide. Um höhere Werte kann man sich erst dann kümmern, wenn die basalen Bedüfnisse gedeckt sind. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Pfaffen früherer Jahrhunderte sich so empörten über materialistische Analysen wie es deren heutige säkulare Wiedergänger auch tun — weil sie sich erstens ertappt fühlen bei ihren eigenen Interessen und zweitens weil deren Moralpredigten dann nicht so gut verfangen. Denn die Moral ist das Mittel der Wahl um das niedere Volk gefügig zu halten, daran hat sich nichts geändert.
Beispiel gefällig?
„In Österreich ist die Bereitschaft zur Verteidigung gemeinsamer europäischer Werte wie Freiheit und Demokratie im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine geringer als im EU-Durchschnitt. Laut einer aktuellen Eurobarometer-Umfrage stimmten nur 49 Prozent der Österreicher der Aussage zu, dass diese Werte Priorität hätten, selbst wenn sich dies auf Preise und Lebenshaltungskosten auswirkt. …“
So beginnt ein Bericht der APA, der bereitwillig von den tagesaktuellen Medien verbreitet wurde. Wohlgemerkt, es geht dabei nicht um den Kampf um die eigenen Freiheit oder die Demokratie im eigenen Land, sondern um die „gemeinsamen europäischen Werte“, also um das, was Brüssel und Co. als solche definieren. Da geht es darum, einerseits ein europäisches Vaterland inclusive überlegenen Wertekanons zu postulieren, andererseits der hiesigen Bevölkerung ein schlechtes Gewissen zu machen. Es ist quasi empörend, daß jemand das Hemd näher ist als der Rock — zumindest, wenn dieser Jemand den unteren Einkommenskategorien angehört. Sind sich diese moralisch verrotteten Unterschichtler nicht bewußt, wie frei sie sind und daß dafür natürlich (nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich) ein Preis zu bezahlen ist?
Schauplatzwechsel: Von der EU zur UNO! Auch die wird gerne als moralische Instanz angesehen — leider auch von Linken. Wenn die UNO etwas verkündet, kann man das als Argument verwenden, im Recht zu sein. Das entspricht dann dem Völkerrecht und wer eine andere Meinung vertritt, ist total pfui, Troll eines Schurkenstaates oder gleich ein Faschist.
Nur geht es halt im Völkerrecht nicht um Moral, schon gar nicht um das Recht der „Völker“, sondern es ist lediglich ein Versuch, das Verhältnis der per Definition überrechtlichen Staaten und anderer Völkerrechtssubjekte trotzdem irgendwie zu verrechtlichen resp. zu zivilisieren. So ist auch der UN-Sicherheitsrat aufgestellt: Einen Beschluß kann es da nur geben, wenn jene Staaten, die einen Dritten Weltkrieg auslösen könnten, nichts dagegen haben — alles andere ist Gloriole.
Zum Vergleich: Hätten USA, UK und Frankreich keinerlei Interesse an der Ukraine, hätte sich Rußland problemlos mit der Argumentation, dort gäbe es Massenvernichtungswaffen, ein Plazet des Sicherheitsrates für seinen Einmarsch abholen können. Nur gibt es diese Interessen halt und deswegen ist dieser Überfall formal genausowenig gerechtfertigt wie der Einmarsch in Afghanistan 2001 oder der im Irak 2003.
Eine Völkerrechtsverletzung allerdings waren und sind all diese Kriege nicht, weil das müßte ebenfalls der Sicherheitsrat konstatieren. Genau deswegen haben wir uns ja heute beim Konsum der österreichischen Leitmedien an die Ersatzfiktion der „internationalen Gemeinschaft“ gewöhnen dürfen, also an das, was Peter Handke einmal als „die sogenannte Welt“ bezeichnete. Schließlich erfolgte die Bombardierung Belgrads 1999 auch nicht mit UN-Mandat, was aber letztlich egal war, weil es sich schließlich um eine humanitäre Intervention der NATO gehandelt hätte.
Da lobe ich mir doch einen Kommentator wie Michael Thumann, der in der zurecht als Atlantikerblatt verschrieenen „Zeit“ gar nicht versucht, mit moralischer Überlegenheit zu argumentieren. Dem geht es lediglich darum, daß eben solche Vetorechte „die westlichen Bündnisse schwächen“ — worunter er nicht nur die EU und die NATO versteht, sondern eben auch die UNO: „Mittlerweile ist das Vetorecht zur großen inneren Bedrohung der multilateralen Bündnisse geworden. … Im UN-Sicherheitsrat kann man sich ansehen, wozu das führt. Lange Zeit scheuten seine Mitglieder eine überfällige Reform. Heute blockiert Russland per Dauerveto das früher mächtigste UN-Gremium. Der Sicherheitsrat ist faktisch zerstört.“
Derart Tacheles hört man selten, schon gar nicht von Politikern. Ursula von der Leyen konstatierte bekanntlich, daß „die Ukrainer“ bereit seien, „für die europäische Perspektive zu sterben“. Also ich bezweifle mal, daß sie da wirklich eine Umfrage in der Ukraine hat machen lassen, ob das die gesamte Bevölkerung auch so sieht. Eher war es so gemeint, wie ein Landsmann von ihr, nämlich Friedrich II., einst weniger diplomatisch seinen Soldaten zugerufen haben soll: „Hunde, wollt ihr ewig leben?“
Heutzutage brauchen aber sogar die Preussen den Zuckerguß über ihren Machtinteressen. Und da soll es dann eben nicht um den Binnenmarkt gehen, sondern um „europäische Werte“. Dafür muß dann geblutet werden. Aber bitte von anderen!
Bernhard Redl