Click-Bait auf hohem Niveau

Als seriös angesehene Periodika wie „Die Zeit“ begeben sich auf gefährliche Pfade der Publikumsakquise.

“Mit Clickbaiting (von englisch Click und bait, Köder) wird medienkritisch eine Praxis bezeichnet, Inhalte im World Wide Web anzupreisen, um mehr Seitenabrufe und damit unter anderem mehr Werbeeinnahmen durch Internetwerbung, Abonnements von Bezahlinhalten hinter einer Paywall oder eine größere Markenbekanntheit der Zielseite bzw. des Autors zu erzielen.” So definiert es Wikipedia. In der großen Zeitungskrise sind auch einstmals seriöse Blätter anscheinend nicht ganz davor gefeit. Das dürfen wir dieser Tage bei der altehrwürdigen “Die Zeit” erfahren. Da kann man aber natürlich nicht arbeiten mit Ködern á la “7 Methoden, wie Männer bei Frauen landen können” oder “9 Dinge, die sie sicher nicht über ihren Hund wußten”, sondern das muß eher raffiniert, um nicht zu sagen: perfide, angegangen werden, sodaß sich das klassische Zeit-Publikum angesprochen fühlt. Und natürlich sind das dann genau die Texte, die als “Zeit+” angeboten werden, also hinter einer Paywall stehen. Da heißt zum Beispiel die Headline: “Lehrermangel: Plädoyer für die Sechstagewoche für Schüler”. Ja, das trickert! Die Lehrer, die Eltern und auch diejenigen, die noch am Samstag Schule hatten — solche wie meinereiner, die extra wegen zweier Stunden Turnen, einer Deutsch und einer Religion eine Stunde Schulweg bestreiten mußten. Wenn man die Paywall zahlenderweise oder mit Tricks überwindet, bekommt man aber einen Text zu lesen, wo das Wort “Sechstagewoche” zwar noch einmal im ersten Absatz vorkommt und der Rest des schlecht geschriebenen Textes wenig verständlich ist, aber überhaupt keine Argumentation zu lesen ist, was das denn mit einer Sechstagewoche zu tun haben könnte.

Der totale Sieg

Den Vogel aber hat die “Zeit” abgeschossen mit der Headline “Ende des Ukraine-Kriegs: ‘Ich wünsche mir einen totalen Sieg’”. Der Text erschien am 18.Februar 2023, also exakt am 80.Jahrestag der “Sportpalastrede”, wo Goebbels die rethorische Frage stellte: “Wollt ihr den totalen Krieg?” Die Headline alleine wäre schon Aufreger genug gewesen, aber allen Rezipienten ist klar: Bei der “Zeit” kann das nicht einfach so passiert sein, da ist genug Geschichtskenntnis vorhanden, zu wissen, was das heißt. Wollte die Redaktion die eigene Gast-Autorin von der Maschekseiten quasi an den Pranger stellen? Oder sind die völlig durchgeknallt? Wenn man den Text dann liest, wird klar, daß Autorin Eva Illouz zwar tatsächlich einen solchen Wunsch geäußert hat, weil sie sich dadurch eine Änderung des russischen Regimes erwartet, aber doch eine sehr realistische Einschätzung hat: “Da weder die USA noch Europa einen Krieg mit Russland beginnen werden, wird der Krieg wahrscheinlich durch ukrainische territoriale Kompromisse enden. Solange es in Russland nicht zu einem Aufruhr der Bürger kommt, müssen wir uns wohl widerwillig auf diese Option einstellen.” Aber das hat halt nicht “Schmackes” genug, daß jemand auf einen Bezahlartikel klickt. Und das paßt auch nicht zum anrüchigen Jahrestag.

So aber bekam die “Zeit” im Empörium von Social Media und Blogosphäre eine Unmenge an Gratiswerbung. Ob es langfristig ein gutes Konzept ist, wenn ein liberales Traditionsblatt Headlines wie die diversen Kasperlpostillen produziert, sei einmal dahingestellt.

Bernhard Redl


PS:

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