Die ÖVP bleibt die ÖVP. Die veröffentlichte Meinung ist darob fassungslos.
Sie waren alle sehr empört! Die Kommentatoren, die liberalen, die in den bürgerlichen Zeitungen. Wie kann Mikl-Leitner nur? Sowas aber auch! Sebastian Fellner im “Standard”: “Mit ihrer rechtsnationalen Koalition bewirkt Mikl-Leitner einen Tabubruch ihrer Partei. … Niederösterreich dient der ÖVP als Test für das Überschreiten von Grenzen, die bislang als unüberwindbar galten.” Gerold Riedmann in den “Voralberger Nachrichten”: “Ein doppelzüngiges falsches Abkommen: Niederösterreich soll gleichzeitig jenes Land sein, das künftig umfassend international als Wirtschaft-, Tourismus-, Wissenschafts- und Kulturstandort positioniert werden soll. Und das für wirtschaftlich motivierte Zuwanderer möglichst unattraktiv gemacht werden soll.”
Oder wie eine frühere Kremser ÖVP-Gemeinderätin in einem Leserbrief an die “NÖN” schreibt: “Ich bin zutiefst erschüttert. Nach 60jähriger Mitgliedschaft kündige ich diese, tief betroffen vom Verhalten der Vertreterinnen und Vertreter meiner Stammpartei, für die ich so lange als Funktionärin in hohen Funktionen tätig war. … Man darf seine Werte und seine Würde nicht verkaufen, auch nicht als Partei. Dieses Abkommen bringt dem Land Niederösterreich Schaden und die Bürgerinnen und Bürger werden verschachert.”
Eher — wenn auch wohl unbeabsichtigt — trifft es da schon Georg Renner in der “Kleinen Zeitung”: “Egal, mit wem man sich in den vergangenen Monaten in der ÖVP unterhalten hat, früher oder später kam die Sprache darauf, wie schlecht der politische Stil in der Gesellschaft geworden sei. … Und jetzt schließt die ÖVP — genau diese ÖVP — einen Pakt mit einigen der übelsten Proponenten dieser Stilmittel.”
Ja, genau da hakt es! Es geht nicht um Inhalte, es geht um den politischen Stil. Man kann ruhig brutal und gemein sein, aber es sollte halt den diskreten Charme der Bourgeoisie ausstrahlen, nicht dieses Rabaukentum von Landbauer, Waldhäusl oder Kickl.
Zwei soziale Heimatparteien
Wo sind denn die großen Unterschiede zwischen diesen beiden Parteien — außer in der Corona-Politik? In der Sozialpolitik vielleicht? Im jetzigen schwarzblauen Abkommen (Seite 25) heißt es:
“Hilfe und Unterstützung sollen in erster Linie jenen zugutekommen, die unser Sozialsystem bereits über Jahre hinweg mit ihren eigenen Beiträgen gestützt haben. Daher evaluieren wir die bestehenden, insbesondere landeseigenen Sozialförderungen … mit dem Ziel einer sachlichen Differenzierung bezogen auf die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes und der bereits erfolgten Beitragsleistungen im Sozialversicherungssystem. Außerdem prüfen wir eine Anpassung des NÖ Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes in Hinblick auf Möglichkeiten für zusätzliche Motivation in Richtung Arbeitsmarkt …, denn wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein.”
Ganz was Neues? Man erinnere sich an die Streitereien über die Mindestsicherung und daß 2016/2017 das Land NÖ eine Interpretation der Bundesregelung zur Kürzung der Mindestsicherung beschloß, die so formuliert war, daß sie vor allem Asylberechtigte betraf — beschlossen von der ÖVP-Mehrheit mit Unterstützung der FPÖ. Daneben gab es auch noch eine Arbeitspflicht für “soziale Arbeit”.
MiLei hatte damals gerade wieder nach St. Pölten zurückgewechselt, nachdem sie 5 Jahre Innenministerin gewesen war. Und als solche hatte sie 2015 einen Zaun um die EU gefordert und wortwörtlich eine “Festung Europa”. Und jetzt soll sie die gütige, verbindende, schöngeistige Landesmama sein, der man solche Forderungen aber nie zugetraut hätte?
Und ja, das mit der Kunstförderung! Das konnte schon ihr politischer Pate Erwin Pröll und Mikl-Leitner hat das fortgesetzt, dieses Einkaufen von, ach!, so kritischen Künstlern. Hier paßt auch die Zukunftsrede von Kanzler Nehammer dazu, dem neben der Blasmusik ausgerechnet das Nitsch-Museum in Mistelbach einfiel, als es um konkrete Beispiele für Kunstförderung ging. Kein Wunder: Diese Leute kann man hervorragend in Wahlkampfkomitees und als Testimonials nützen. Hat man auch jetzt wieder gesehen, wie Christian Spatzek, Intendant der Festspiele Stockerau, im Wahlkampf in einem Videoclip — obwohl er bekannte, üblicherweise nicht ÖVP zu wählen — doch seiner Hochachtung für MiLei Ausdruck verlieh. Das Kalkül der NÖ-ÖVP war es immer, Opinionleader, und da speziell eben Künstler, an sich zu binden. Daneben waren die auch noch zum Zwecke der Tourismusförderung beliebt. Wer da nicht mitspielt, hat halt in NÖ ausgeschissen.
Überhaupt war ein auffälliger Gleichklang zwischen Nehammers Zukunftsrede und MiLeis Verteidigungsrede zur Koalitionsbildung zu erkennen — hier wie dort die “freie Wahl der Verkehrsmittel” zu fordern, war auch Teil beider Reden. In MiLeis Rede dominierte, daß sie eigentlich nicht diese Koalition mit der FPÖ wolle, aber sich dazu gezwungen sähe, weil die SPÖ so unverschämt gewesen sei. Bezeichnend auch, daß nach der Präsentation der Koalition auf der Homepage der ÖVP gleich neben dem Link zum Arbeitsübereinkommen ein Link zu “Sharepics”, also Internet-Taferln, zu finden war, auf denen die Forderungen der SPÖ als inakzeptabel erläutert werden.
Auch hier die Parallele zum Kanzler: Nehammers Rede kann man nur als Kampfansage an die Grünen deuten, egal, ob es um Flüchtlings-, Integrations- oder Sozialpolitik geht, von Klimapolitik oder Tierschutz (die Vorschriften für die Bauern seien zu streng) ganz zu schweigen. Nehammer toppte das auch noch danach, als er in einem “Hintergrundgespräch” versuchte, seine wohl vorbereitete, aber dann doch etwas als seltsam empfundene Rede der Presse zu erklären. Da meinte er in Richtung Grüne, diese seine Ideen orientierten sich eh erst für nach 2024, also für nach Ende der Koalition mit den Grünen. Wie das bei den Grünen angekommen ist, kann man sich vorstellen, teilte er doch damit mit, daß für ihn eine Legislaturperiode mit ihnen genug sei. Und wohl auch, daß er mit Hilfe der FPÖ Kanzler bleiben möchte.
Wo ist da jetzt also der “Tabubruch”? Vor allem, wenn man bedenkt, daß die letzte Koalition zwischen ÖVP und FPÖ auf Bundesebene noch gar nicht so lange her ist.
In Österreich regiert die Niederösterreichpartei
Die ÖVP bleibt die ÖVP und sie bleibt jene Partei, die sie auch schon war, als sie sich noch “christlichsozial” nannte. Erhellend — wenn auch nicht wirklich etwas Neues sagend — waren die Medienauftritte anderer ÖVP-Politiker. Als am Sonntag zwei ÖVPler im ORF waren, wurden sie prompt zur Bildung der Landersregierung befragt. Aus gutem Grund: Der eine war Gerhard Karner, jetzt Innenminister, vorher u.a. zweiter NÖ-Landtagspräsident, Bürgermeister der Dollfußgemeinde Texingtal und NÖVP-Landesgeschäftsführer (nebenbei damit auch früher Chef von Nehammer, der zu Karners Zeit als Geschäftsführer NÖVP-Kommunalreferent war). Karner erklärte in der “Pressestunde” aber, nicht in die jetzigen Verhandlungen eingebunden gewesen zu sein, genauso wie ein paar Stunden später bei “Im Zentrum” VP-Generalsekretär Christian Stocker. Der ist nämlich auch Vize des Wiener Neustädter Bürgermeisters Klaus Schneeberger, der wiederum in NÖ vor allem berüchtigt ist als Chef des Landtagsklubs seit dem Jahr 2000, quasi die First Whip zuerst für Pröll und dann für MiLei — und möglicherweise diese Funktion auch im neuen Landtag ausüben wird. Schade, daß nicht auch Heeresministerin Tanner einen ORF-Auftritt hatte — sie hätte als stellvertretende NÖVP-Vorsitzende vielleicht mehr sagen können. Und dann gäbe es da noch den verhaltensoriginellen Nationalratspräsidenten…
Wenn man sich diese geballte NÖ-Machtansammlung in der ÖVP ansieht, kann man schon verstehen, daß die jetzige Landeskoalition mehr Bedeutung für den Bund hat, als auf den ersten Blick ersichtlich ist: Österreichs Hauptstadt scheint mittlerweile nicht mehr Wien, sondern eher St. Pölten zu sein.
Tacheles
“Das Arbeitsprogramm, das sich die Volkspartei Niederösterreich gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner gesetzt hat, ist inhaltlich stark, obwohl natürlich wie bei jeder Koalition Abstriche gemacht werden müssen. … Was am Ende des Tages zählt, ist das klare Programm & eine ordentliche Mitte-Rechts-Politik …”.
Ja, das ist Tacheles, ohne Geschwurbel, Umschweife oder Entschuldigungen. Das Statement stammt von der früheren ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner. Das ist jene Dame, die ihren Job hingeschmissen hat, weil sie der Meinung war, die ÖVP verrate in der Bundeskoalition wegen der Grünen all zu sehr “ihre Werte”.
Man sollte mehr jenen in der ÖVP zuhören, die keine diplomatische Rücksicht mehr walten lassen müssen, sondern frei von der Leber weg sagen können, wofür die Partei wirklich steht. Dann wären wohl auch die bürgerlichen Kommentatoren nicht mehr so überrascht über vermeintliche “Tabubrüche”.
Bernhard Redl
Bonus: Das Waldhäusl von Wien:
https://www.facebook.com/watch/?v=612579370225218