woran man sich gewöhnen kann …

… und woran nicht. ein versuch über gefahr und angst.

1974 kam ich in die volksschule. da hatten wir „verkehrserziehung“: ein polizist kam in die klasse und erklärte uns, daß autos große gefährliche und viel zu schnelle dinger sind, als das wir da noch ausweichen könnten — und daß wir dann sterben können. wir sollten daher lernen, zuerst links und rechts zu schauen und dann zügig die straße zu überqueren, nicht dabei aber zu rennen. das war eine konkrete, leicht verständliche und vor allem sichtbare gefahr, die auch uns zwutschgerln nicht verängstigte.

1986 wurden wir dann alle hierzulande mit einer unsichtbaren gefahr konfrontiert — dem fallout von tschernobyl. da hieß es, wir sollten die nächsten wochen nicht in der wiese liegen und keine schwammerln essen. plötzlich redeten alle von cäsium und strontium, als wüßten sie, was das ist. aber immerhin waren spätestens seit der zwentendorf-debatte die gefahren der atomkraft in österreich ein thema gewesen und die informationslage einigermassen konsistent und nachvollziehbar.

1992 war ich in sarajevo. da klebten an manchen hausecken kleine affichen, auf denen stand: „pazi snaiper“. das sollte anzeigen, daß das hier eine straße ist, die von den bergen rund um die stadt einsehbar ist und wo ein scharfschütze darauf lauern könnte, jemanden unvorsichtigen abknallen zu können. das war wieder eine unsichtbare gefahr wie 1986, aber es war eine konkrete wie der autoverkehr und mit einem klar festmachbaren feind, nämlich dem scharfschützen, von dem man wußte, daß es ihn gibt. und auch hier hieß es wieder wie bei der verkehrserziehung: die straße zügig und ohne zu laufen zu überqueren, das reiche, um am leben zu bleiben.

das waren klare ansagen: wenn du vor ein auto hupfst oder vor ein zielfernrohr bist du im lebensgefahr. aber es ist kein grund panisch zu werden, man muß nur sein verhalten ein wenig anpassen. tschernobyl war für mich zuerst noch nicht ganz faßbar — bis ich dann in einem ferialpraktikum filterkuchen aus dem waldviertel zu untersuchen hatte und der geigerzähler zu randalieren begann. da war auch das plötzlich sehr real, wenn auch nur als anzeige auf einem meßgerät.

an all diese gefahren habe ich mich sehr schnell gewöhnen gelernt. die gefahren war abschätzbar und erklärbar. persönliche erfahrung, wissenschaft oder berichterstattung waren brauchbare informationsquellen. sie waren sondern höchstens im detail, aber nicht essentiell widersprüchlich.

aber das jetzt? seriöse wissenschaftler antworten auf die hälfte der fragen, die sie zu corona gestellt bekommen, daß sie keine ahnung hätten oder höchstens vermutungen, die so vage wären, daß sie sie lieber nicht äußern wollten. daher werden diese von politik und journalismus auch nur selten befragt, weil keine ahnung haben können politiker und journalisten alleine. also fragt man jene wissenschaftler, die behaupten, einigermassen genau zu wissen, worum es sich bei diesem virus handelt. politiker und journalisten suchen sich konkret dann jene aus, die etwas sagen, was sie sich selbst auch schon so gedacht haben oder das sie hören wollen, weil es ihnen nützt. medien- und regierungskritische menschen bis hin zu den verschwörungstheoretikern fragen daraufhin die anderen wissenschaftler, die behaupten, etwas zu wissen oder zumindest soweit sicher zu sein, daß sie sich trauen, vermutungen zu äußern.

beide standpunkte — also todbringendes killervirus vs. kaum schlimmer als die grippe — werden mit einer verve vertreten, als wüßte die eigene seite wirklich mehr als die andere. da werden tabellen, statistiken und vor allem graphen ende nie veröffentlicht, die aber bei kritischer betrachtung sich als nicht aussagekräftig herausstellen — natürlich nur für die jeweils andere seite. beide seiten fühlen sich aber jedenfalls auch der anderen seite moralisch überlegen. die einen befürchten ein massensterben durch das virus, die anderen die zerstörung von wirtschaft, demokratie, wohlfahrt und psychischer stabilität. die vermutung liegt nahe, daß dieses moralische überlegenheitsgefühl notwendig sein könnte, weil man die eigenen zweifel sonst nicht verdrängen kann.

journalisten müssen etwas berichten können — mit „ich weiß nichts“ konnte zwar ein sokrates etwas anfangen, aber der mußte ja nicht von der wiedergabe seiner erkenntnisse leben. er sah sich ja nicht einmal genötigt, diese aufzuschreiben. heute wäre sokrates einfach nur ein griechischer sandler und niemand würde ihn ernstnehmen. wir leben im zeitalter der naturwissenschaft und technik und wir haben medien, die wollen und müssen diese erkenntnisse verbreiten — und je konkreter und spektakulärer die aussagen der experten sind, desto höher sind auflagezahlen und einschaltquoten.

politiker können mit unkenntnis auch nichts anfangen — sie brauchen entscheidungsgrundlagen. daher müssen sie auch vorab entscheiden, welchen wissenschaftlern sie glauben schenken.

auch diese beiden menschengruppe sind getriebene — von einer angst, das falsche zu tun. auch von ihnen kommen daher die moralpredigten, nicht nur um ihre kritiker mundtot zu machen, sondern um auch die eigenen unsicherheiten zu überspielen.

wir hier unten aber, wir laien in all diesen dingen, die wir noch weniger wissen als all die experten und keine möglichkeiten zu entscheidungen haben, sind dem völlig ausgeliefert. wir sehen uns mit dem virus einer gefahr gegenüber, die wir nicht nur nicht tatsächlich sehen können, sondern die wir auch kaum verstehen. wir sehen die gefahren, die die virusbekämpfungsmaßnahmen bergen, und verstehen sie auch. aber da wir nicht wissen was gefährlicher ist, die krankheit oder die kur, wissen wir auch nicht, welche position wir beziehen sollen.

zur weiteren verunsicherung trägt bei, daß kein schuldiger und kein verantwortlicher festmachbar ist — zumindest keine gruppe und schon gar keine einzelperson, die eindeutig zu verantwortung zu ziehen wäre.

hingegen die frage, wie wir handeln sollen, stellt sich uns hier unten nicht — das sagen uns schon die regierenden und die polizeien dieser welt. aber das macht uns nicht sicherer sondern eher weniger sicher — das ist wie auf einem tandem, wo der hintensitzende mittreten muß und genauso den gefahren des straßenverkehrs ausgesetzt ist wie der vordermann, aber im gegensatz zu diesem nur einen rücken sieht und nicht lenken und keine entscheidungen treffen kann.

um uns aber nicht selbst zu verlieren, müssen wir eine position beziehen und zwar ohne irgendeinen zweifel haben zu dürfen, weil daß das einzige ist, was unsere ängste im zaum halten kann.

der siegeszug des menschen auf diesem globus ist sicher auch dadurch bedingt, daß wir so anpassungsfähig sind. wäre dem nicht so, würden heute vielleicht die nachkommen der säbelzahntiger die welt beherrschen. wir können uns einfach an sehr viel gewöhnen. ich habe mich 1992 in sarajevo auch sehr über mich selbst gewundert, wie schnell ich es normal finden konnte, im schnellen schritt über die straße zu gehen, während ein scharfschütze versucht mich mit seinem fernrohr zu erfassen. aber so grauslich sich diese gefahr auch darstellte, so war sie eindeutig und berechenbar. aber an eine vollkommen uneinschätzbare gefahr wie dieses virus kann man sich nicht gewöhnen. da muß man information dazuerfinden, um damit umgehen zu können.

warum genau einstens sokrates der schierlingsbecher gereicht wurde, ist unter historikern nicht ganz geklärt. aber es war eindeutig ein politischer prozeß mit einem ebensolchem schuldspruch. hatte es vielleicht damit zu tun, daß sokrates so etwas wie der erfinder der dialektik und ein gelehrter apologet des nichtwissens war? das würde das todesurteil zumindest erklären, denn in krisenzeiten waren solche leute bei den herrschenden wie im volk noch nie sehr beliebt.

bernhard redl

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