Lernen Sie Geschichte!

Jetzt wirds chaotisch. Denn ich muß mal wieder oberlehrerhaft rumgranteln.

[aus der Printausgabe 4/2024]

Der Umgang mit der Geschichte ist zum Haareraufen — anscheinend gibt es nur mehr entweder Statements, die mit der Argumentation, man müsse doch aus der Geschichte lernen, irgendetwas beweisen wollen, oder die komplett ahistorisch sind; bei manchen fallen diese beiden Diskursführungen sogar in eins. Das passiert sowohl in persönlichen Gesprächen, auf Social Media als auch in den Massenmedien. Nachfolgenden Text könnte ich daher eigentlich alle zwei Wochen schreiben, jedesmal mit neuen Beispielen.

Das erste habe ich diesmal von jemandem, der sich wohl als standfesten Antifaschisten versteht. Das akin-Publikum erinnert sich vielleicht noch daran, daß ich in der letzten Ausgabe meinte, daß es wohl verständlich sei, wenn für einen UNRWA-Lehrer “die Naqba relevanter sein dürfte als der Holocaust”. Dieser Text fand seinen Weg auch auf die Facebookseite der KPÖ Wien. Eine Reaktion dort war: “Wenn jemand die Naqba mit dem Holocaust vergleicht, hat er aus der Geschichte nicht das Geringste gelernt bzw. verstanden. Ich empfinde es als völlig entbehrlich, diese Begriffe in einem Satz gegenüberzustellen. Die Aussage hätte auch ohne Holocaust funktioniert — ganz ohne diesen zu verharmlosen.” Habe ich tatsächlich den Holocaust verharmlost? Wohl kaum, es ist nur so, daß für palästinensische Kinder der Holocaust völlig irrelevant ist. Hitler war ja wohl kein Araber. Die Palästinenser empfinden die Erzählung des Holocausts nur als Argumentation der Besatzer für die Naqba. Also eben als Mißbrauch der Geschichte.

Es war einmal…

Anderes Beispiel: Groß war jetzt die Empörung darüber, daß ein US-Interviewer Wladimir Putin seine Geschichtserzählung so breit präsentieren ließ. Aber warum? Zum Teil sicher berechtigt und zwar deswegen, weil die Interviewführung wirklich doch ein wenig zu lieb war. Vielleicht meinte Tucker Carlson, Putin würde sich selbst entlarven, wenn er ihn reden ließe. Ein Teil der Kritik an diesem Interview ist aber völlig verfehlt. Da fallen die Kommentatoren in die Grube, die sie sich selbst gegraben haben. Denn was macht Putin? Er schildert im Großen und Ganzen korrekt die Geschichte des ungefähren Gebiets der Ukraine seit der Kiewer Rus. Und wie schon früher fallen die Kommentatoren darüber her, daß Putins “Geschichtsstunde” doch völlig falsch sei — das sind die selben Kommentatoren, die Geschichtserzählungen aus Kiew für viel relevanter halten. Diese Erzählungen sind zwar ebenfalls zum Großteil korrekt. Aber was bedeuten sie? Warum ist die Geschichte so abgelaufen, wie es nunmal passiert ist und wer hatte welche Interessen? Da sind die Erzählungen aus Moskau und Kiew halt sehr unterschiedlich. Das aber sind keine Fakten, sondern es sind Interpretationen der Geschichte und solche Interpretationen sind politischer Natur und nur selten welche, die man in einem wissenschaftlichen Sinne eindeutig belegen kann. Doch hier wird von beiden Seiten versucht, mittels reiner Geschichtserzählung entweder die Ukraine als Staat zu legitimieren oder sie zu delegitimieren.

Dazu kommt das Konzept der Nationalstaatlichkeit: Wenn die Ukrainer keine Russen sind, dann gilt ihr Staat als legitim; sind es Russen, dann nicht. Das ist ein Konzept aus dem 19.Jahrhundert und damals war es progressiv und gegen die feudale Ordnung gerichtet. Die Folge war aber, daß staatliche Autoritäten vermeintlich ethnisch reine Nationen geschaffen haben, um sich selbst als Staat legitimieren zu können — was nicht paßt, wird passend gemacht. Davon können unter anderem die Südtiroler und die Kärntner Slowenen ein Lied singen. Von dem Wahnsinn, mit dem man in den 90ern die Zerschlagung Jugoslawiens erreicht hat, gar nicht zu reden.

Es wird nicht die Frage gestellt, was denn eine vernünftige Verwaltungseinheit mit entsprechenden Grenzen wäre, mit der alle Seiten leben könnten. Denn dann müßte man die Heiligkeit solcher Verwaltungseinheiten in Frage stellen und könnte nicht mehr kuhäugig auf Nationalfahnen blickend heroisches Liedgut von sich geben. Wie formulierte Werner Kogler in der letzten Pressestunde: “Also hat die Ukraine das Recht, solange zu kämpfen, wie sie glaubt, das zu sollen.” Was ist denn das für eine Phantasmagorie? Da wird geredet, als wäre die Ukraine ein lebendes, fühlendes Wesen, eine fleischgewordene Allegorie, die sich da mutig in die Schlacht gegen den ebenso allegorischen russischen Bären begibt.

Es wird auch nicht die Frage gestellt, inwiefern Konflikte in der Geschichte entstanden sind, woraus man lernen könnte, wie diese Konflikte bereinigbar sein könnten und wo ein Interessensausgleich möglich ist, sondern es wird versucht, mittels Geschichte das Existenzrecht eines Staates zu belegen oder abzusprechen.

Moralisches

So ist das auch mit dem Völkerrecht: Die UNO hat mit ihrer Gründung in Nachfolge des Zweiten Weltkriegs die existierenden Grenzen eingefroren — nicht deswegen, weil sie irgendwie eine Berechtigung gehabt hätten, sondern weil man Annektionskriege für Unrecht erklären wollte, um solche Kriege zu verhindern. Ebenso hat man jenen Nationen die Definitionsmacht darüber gegeben, die am ehesten Auslöser eines neuen Weltkriegs werden könnten — den fünf ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrates; auch das nicht deswegen, weil die moralisch irgendwie höherstehen würden, sondern weil man einen direkten Konflikt zwischen ihnen vermeiden wollte. Deswegen sind das auch genau jene fünf Mächte, denen die “Internationale Gemeinschaft” zugesteht, Atomwaffen besitzen zu dürfen. Hätten die kein Vetorecht im Weltsicherheitsrat, hätten wir wohl schon einen Dritten Weltkrieg. Aber das ist eben ein erzwungenes, kein moralisches Recht.

Apropos Völkerrecht: Mit Erstaunen entnehme ich den Nachrichten, daß man Israel doch jetzt dazu überreden möchte, einen Palästinenserstaat zu akzeptieren. Dabei wird so getan, als wäre das eine völlig neue Idee. Da wird gerade von denjenigen, die sich immer so sehr auf das Völkerrecht versteifen, völlig ausgeblendet, daß das Existenzrecht eines palästinensischen Staates seit 1947 eben geltendes Völkerrecht ist — beschlossen durch eine UN-Resolution und von mehreren weiteren Resolutionen immer wieder bestätigt, zuletzt im Zuge der “Roadmap” 2003. Aber weil israelische Regierungen immer nur das eigene Existenzrecht aus den UNO-Resolutionen herauslesen, muß man halt so tun, als wäre das jetzt eine neue Idee.

Goldene Zeiten

Ganz ein anderes Beispiel: Innenpolitische Kommentatoren. Da lese ich einen Leitartikel unter dem Titel “Das digitale Gift” von Gerald Mandlbauer in den Oberösterreichischen Nachrichten. Schon beim Untertitel geht mir das G’impfte auf: “Ein Blick ins Labor alternativen Medien: Ohne sie wäre Kickl nicht dort, wo er steht.” Und im Fließtext kommen dann so Sachen wie: “300 Jahre ist die Menschheit mit Aufklärung gut gefahren. Doch 2024 sind Vernunft, Moral und Anstand keine geschützten Zonen mehr, die Institutionen sind dem Feuer von Manipulationen ausgesetzt.” Dann kommen ein paar Beispiele von tatsächlich völlig jenseitigen Verschwörungstheorien, um dann weiter unten wieder bei der Kicklpartei zu landen: “Wie es klassischen Nationalliberalen in der FPÖ damit ergeht, ist eine gute Frage. Es gibt sie noch, diese Leute, für die Anstand und Politik ein enges Paar sind, doch sie halten sich bedeckt …”

Ich könnte schreien! Das ist die perfekte Kombination aus Geschichtsbeweisversuchen und Ahistorizität! Im Einzelnen: Die FPÖ ist von einem dezidierten und auch als solchen verurteilten Nazi gegründet worden — das sind (von seltenen Ausnahmen abgesehen) die “klassischen Nationalliberalen” in dieser Partei, die da bemitleidet werden. Haider und Strache und Kickl wurden auch nicht von rechten Verschwörungstheoretikern hochgepuscht, sondern von den Massenmedien — man sehe sich all die Cover von profil, NEWS, Wochenpresse, etcetera an. Die haben mit ihren auflagensteigernden Mahnungen und Warnungen nichts als selffullfilling prophecies betrieben. Und nichts daraus gelernt: Zuletzt stellte das profil sogar diesen Unnötel Martin S. auf sein Cover!

Was mich natürlich persönlich aufregt: Als jemand der seit dreieinhalb Jahrzehnten für ein Alternativmedium arbeitet, habe ich es satt, daß irgendwelche Nazitrottelsites so bezeichnet werden. Aber das scheint ja heutzutage die allgemeine Sprachregelung zu sein.

Das ganze Gejammer, früher sei alles viel besser gewesen, ist ja auch nicht gerade neu. Vor allem da aber die letzten 300 Jahre im Blickfeld zu haben, mit all ihrem Kolonialismus — der noch dazu gerne mit der Aufklärung begründet worden ist —, mit all den Kriegen, mit dem Aufblühen eines mörderischen Kapitalismus, aber auch mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts, ist allerdings schon ein bisserl eine Chuzpe.

Da fürchtet jemand um die Definitionsmacht traditioneller Massenmedien, also der Macht altgedienter Welterklärer. Das ist verständlich, aber dann soll er das auch so sagen. Der Grund für das Zeitungssterben ist aber eben nicht nur in der Digitalisierung zu sehen, sondern wohl auch in der Überheblichkeit der Leitartikler.

Steinmetz müßte man sein

Ja, soweit mein kurzer Rückblick auf zwei Wochen Medienerfahrung — und das war wirklich nur eine Auswahl. Das Prinzip ist immer dasselbe: Man haut sich aus dem Steinbruch der Geschichte was heraus und drechselte sich daraus dann, was man brauchen kann. Mal wird es eine Schirchperchte, mal wird es eine Nippesfigur von entzückender Lieblichkeit, manchmal ein Grabstein und manchmal darf es auch ein monumentales Reiterstandbild sein. Und für dieses Werk hätte man dann gerne Applaus. Wer nicht applaudiert, naja, der hat dann eben aus der Geschichte nichts gelernt.

Bernhard Redl

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