Die Moderne ist zurück

Mit der Corona-Krise werden die Elfenbeintürme wieder zu Kathedralen

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Was hilft zweifeln können dem
Der nicht sich entschließen kann! Falsch mag handeln

Der sich mit zu wenigen Gründen begnügt
Aber untätig bleibt in der Gefahr
Der zu viele braucht.
(Brecht, Lob des Zweifels)

Heute haben wir leider
für Feinheiten
keine Zeit
sagte einer
den ich schon vor Jahren
als Grobian kannte
(Erich Fried, Not kennt kein Gebot)

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der “Gerechtigkeit”, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die “Freiheit” zum Privilegium wird.
(Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, 1918)

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Könnt ihr euch noch an die Zeit erinnern, als alle Atomkraftgegner “Spinner” waren? Und fortschrittsfeindlich! Weil ja schließlich ohne AKW die Lichter ausgehen. Genauso wie ein paar Jahre später mit Hainburg. Weil es ja völlig problemlos ist, auch ein großes Wasserkraftwerk naturnah zu errichten, da besteht überhaupt kein Widerspruch zum Nationalpark. Wer die Gentechnik ablehnt, ist auch nur ein Hinterwäldler. Das brauchen wir unbedingt, um den Hunger der Welt zu stillen, genauso wie die Pestizide. Die Klimaerwärmung ist ebenfalls ein Hirngespinst der Weltverbesserer. Und ohne S1 und Stadtstraße erstickt die Stadt im Autoverkehr und man kann auch keine neuen Wohnungen bauen. Sagen uns die relevanten Experten. Das ist doch wissenschaftlich alles genau belegt.

Gab es nicht einmal so etwas wie Wissenschaftskritik? Oder die Frage, ob Wissenschafter wirklich so völlig ohne andere Interessen agieren — außer eben, daß sie an der Wahrheit und an der Richtigkeit ihrer Thesen interessiert seien? Oder spezifischer: Erinnert sich noch wer an die Debatten, ob man die “Götter in Weiß” nicht von ihrem Podest holen sollte und daß Medizin mehr sein müsse, als die Reparatur eines rein physischen Mechanismus? Haben wir nicht unter anderem von Paul Watzlawick gelernt, daß unser Weltbild von Erwartungshaltungen geprägt ist?

Watzlawick ist ein gutes Stichwort — Träger des “Paul-Watzlawick-Ehrenrings” ist auch der derzeit gerne in den Fernsehstudios präsente Peter Klimek. Seine Fachdisziplin beschreibt er wie folgt: “In der Komplexitätsforschung entwickeln wir mathematische und statistische Modelle – getrieben von kleinen oder großen Datensätzen – um solche Systeme und ihr Verhalten quantifizieren, verstehen und letztendlich besser handhabbar zu machen.” Sprich: Die Soziologie ist endgültig eine Angelegenheit von Statistikern und Quantifizierern geworden — der Mensch und sein Verhalten haben berechenbar zu sein. Watzlawick würde wohl rotieren. Logisch ist die Auszeichung trotzdem, denn dieser nach dem Philosophen und Psychotherapeuten benannte Ehrenring wird von der Wiener Ärztekammer vergeben.

Manager gesucht

Dieses Fokussieren auf die “Handhabbarkeit” einer Krise im rein technokratischen Sinne versehen mit wissenschaftlicher Gloriole war in dieser Pandemie von Anfang an gegeben. Man erinnere sich an die “Tischvorlage” vom Mai 2020 mit dem Titel “Stellungnahme zur COVID19 Krise”, das die Regierung als Grundlage für die weitere Arbeit verwenden wollte. Um dem Papier mehr Gewicht zu verleihen, waren am Titelblatt die Namen der Rektoren von Uni und Med-Uni Wien genannt. Allerdings kannte der eine die Studie nur vom Hörensagen, der andere nicht einmal das. Verfaßt hatten das Papier ein Genetiker und vier Mathematiker. Aber damals, im ersten Frühling der Krise, wurde diese fachliche
Eingeschränktheit und das Schmücken mit den fremden Federn zweier Rektoren wenigstens noch kritisiert. Wenn heute jemand das jüngste Papier mit dem hochtrabend-autoritären Titel “Unabhängiges Statement der Wissenschaft” in Zweifel zieht, ist er ein “Schwurbler”, also quasi das, was im 20.Jahrhundert ein “Spinner” war.

Als bei “Im Zentrum” neben Peter Klimek die Ärztin und SPÖ-Chefin Rendi-Wagner saß, gab sie auch ein diesbezügliches Statement ab. Mit Berufung auf Klimeks Fachkollegen Niki Popper wünschte sie sich eine “zentrale Drehscheibe der wissenschaftlichen Analyse” wo “verschiedene wissenschaftlich-medizinischen Disziplinen zusammengefasst werden: die Virologen, die Infektiologen, die Prognoserechner, die Mathematiker, und alle, die wir dazu noch brauchen”. Jetzt rotiert wohl auch Alfred Adler! Weil klar ist, daß die, die “wir” nach Ansicht Rendis und Poppers “noch dazu brauchen”, sicher keine Soziologen, Politologen, Philosophen oder vor allem Psychologen sein werden. Weil das Ganze ja nur ein rein medizinisch-mathematisches Problem ist. In einem Land, das wie kein anderes für die Erforschung der Tiefen der Psyche steht, gehen wir das rein mechanistisch an, wenn es darum geht, ein gesellschaftliches Problem zu lösen — denn angeblich geht es ja um das Verhalten der Bevölkerung.

Überall Aluhüte

Allerdings laufen auch Mediziner mit dissidenten Meinungen schon unter “Schwurbler”. Als in der ORF-Sendung “Politik Live” der FPÖ-Wirtschaftskämmerer Matthias Krenn meinte, man müsse doch auch andere Experten einladen zu Diskussionen und nicht immer nur die selben, fiel ihm Sigrid Pilz, vormalige Grün-Politikerin und jetzige Patientenanwältin ins Wort, daß man nicht mit Leuten diskutieren müsse, die “Unwissenschaftlichkeit verbreiten”. Auf den Einwand Krenns, da wären ja auch Mediziner mit dabei, meinte Pilz: “Schlimm genug, das ist eine Aufgabe für die Ärztekammer.” Mit anderen Worten: ‘Was wissenschaftlich ist und was nicht, bestimme ich. Und wenn wer was anderes sagt, soll sich die Disziplinarkommission um denjenigen kümmern und vielleicht auch gleich die Approbation entziehen.’ Also ich hoffe sehr, daß ich nie auf diese Patientenanwältin angewiesen sein werde, wenn ich hören muß, wie sie Widerspruch gegen Autoritäten verachtet.

In derselben Sendung kommt auch ein gebauter Beitrag vor mit dem Positiv-Beispiel Portugal: “Dort hat ein General vom Militär das Ruder in die Hand genommen” heißt es da — ohne jegliche Bedenken, noch dazu bei einem Land, das bis 1974 eine unverhüllte Diktatur war. Auch bei den Diskussionsteilnehmern im Studio löst dieses seltsame Demokratieverständnis keinerlei Unbehagen aus.

TV-Diskussionen kann man aber auch anders machen: “Wir erleben bei unseren Gästen sehr oft, dass sie sich für das — Zitat — ‘Meinungsasyl’ bei uns bedanken. Offenbar ist es so, dass nicht überall kritische Meinungen gerne gehört werden.” Das sagt Katrin Prähauser, Moderatorin beim vielgescholtenen “Servus TV” im Branchenblatt “Österreichs Journalist:in” 4/2021. Natürlich orientiert sich Privatfernsehen mehr an Infotainment und unterhaltsamer sind nunmal kontroversielle Debatten als wenn sich alle in einer Diskussionsrunde in groben Zügen einig sind und die Moderation Widersprüche in Details zu Wichtigkeiten aufblasen muß. Aber damit ist der ORF nicht seriöser und die Verachtung hochstehender, aber lebhafter Diskussion war auch nicht immer so — man erinnere sich an die Zeiten eines Club 2 in den 70ern und 80ern.

Gerade jetzt in dieser Krise ist der Druck hoch, einen Konsens unter den Wissenschaftern zu zelebrieren, was man dann als “die Wissenschaft”, die “mit einer Stimme” spricht, verkaufen kann. Dazu muß man aber die dissidenten wissenschaftlichen Stimmen ausblenden — indem man sie nicht zu Diskussionen einlädt oder bei ihnen schon von vornherein die Schere im Kopf funktioniert, weil sie ihre Karriere nicht gefährden wollen.

Bleibt also nur die unwissenschaftliche Kritik. Präsent ist da in einer breiten Öffentlichkeit mit Dissidenz hauptsächlich die FPÖ — auch deswegen, weil der ORF nach seinem gesetzlichen Auftrag die Stellungnahmen einer Parlamentspartei bringen muß. Daneben haben noch diejenigen, die als “Verschwörungstheoretiker” gebrandmarkt werden, eine hohe Bekanntheit. Sowohl diese als auch die Kickl-Partei sind allerdings sehr hilfreich für das ‘manufacturing consent’, denn sie verzapfen offensichtlichen Blödsinn, von dem man sich leicht abgrenzen kann — und damit auch jede Kritik desavouieren.

Menschliches, Allzumenschliches

Die Verschwörungstheoretiker sind in ihrem Verhalten aber auch ein Spiegelbild derjenigen, die heute auf das schwören, was sie für Wissenschaft halten. Das ist kein Wunder, gehört das doch zur Überlebensstrategie des Homo Sapiens: Diese Spezies konnte nur durch ihre Neugier überleben — wir wollen immer alles wissen! Und wir wollen für alles Erklärungen! Bevor sich die modernen Meteorologen damit beschäftigten, mußten wir den Blitz erklären — also mußte ein Gott dafür verantwortlich sein. Ebenso brauchte es einen solchen, um die Entstehung der Arten zu erklären, bevor Darwin den Weltschöpfer von seinem Thron holte. Es ist einfach unbefriedigend, für ein unleugbares Faktum keine Erklärung zu haben.

Wie notwendig aber nicht nur die Existenz des Dissenses in der Wissenschaft sondern auch dessen Vermittlung für eine informierte Meinungsbildung ist, zeigt das berüchtigte Milgram-Experiment. Dieses Experiment wird gerne angeführt, um die Bestialität aus Autoritätshörigkeit zu dokumentieren, oft im Zusammenhang mit der NS-Zeit. Was dabei oft übersehen wird: Es waren keine militärischen oder sonstwie hoheitlichen Autoritäten, die da die Befehle gaben, sondern wissenschaftliche. Wer von den Probanden aufhören wollte mit der Folter, wurden vom Versuchsleiter darauf hingewiesen, daß ein Abbruch das Experiment gefährde. Andererseits stieg die Abbruchrate, wenn eine andere Autorität im weissen Kittel sich einmischte und die Erst-Autorität kritisierte. Will ich also Gehorsam, muß ich gerade qualifizierte Kritik ausblenden. Genau das erleben wir heute. Und das ist auch nicht zu rechtfertigen mit dem Hinweis, daß es ja für einen guten Zweck sei.

Dogmatik als Sicherheit

Wir wollen Sicherheit, gesichertes Wissen. Doch die Wissenschaft lebt vom Zweifel. Damit ist sie ein unbrauchbarer Gott. Deswegen basteln sich die Verschwörungstheoriker neue Götter, wilde Spekulationen, wo es für jeden Widerspruch eine Ausrede gibt, mit der man ihn beseitigen kann. Deren Gegner sind aber nicht besser, denn auch sie wollen den Widerspruch, ohne den es keine Dialektik und damit auch keinen wissenschaftlichen Fortschritt geben kann, in die tiefsten Tiefen des Orkus verbannen, weil sie sonst verunsichert sind. Ein sokratisches Bekenntnis zum Nichtwissen ist beiden ein Greuel. Das ist aber auch kein Wunder: Denn ohne ein gesichtert scheinendes Wissen ist ein Handeln — vor allem in einer Krisensituation — nur schwer möglich. Und derjenige ist am Durchschlagskräftigsten, dessen Meinung am wenigsten vom Zweifel angekränkelt ist. Ob dessen Lösung eines Problems allerdings als in irgendeinem Verständnis des Wortes als “gut” bezeichnet werden kann, ist damit nicht garantiert.

Die Kritik am Machbaren, an den neuen Gottheiten in den Labors und auf den Universitätskanzeln, ist das große Verdienst der ansonsten eher nicht so prickelnden Postmoderne. Die Moderne hielt den
naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt für das Um und Auf der Welt. Das zeigten am Schönsten die Bilder von den rauchenden Schloten als Zeichen der Prosperität und der Leninsche Elektrizitätssager. Ist es eine rein zufällige Koinzidenz, daß mit der Debatte um die Klimaerwärmung wieder die Atomenergie forciert werden soll? Oder ist es der Ausdruck der marxschen Farce, wie die Moderne wiederkommt? — die technische Lösung eines Problems mittels Elektrizität, jetzt halt wieder nuklear, mit der nächsten Generation an Experten, die uns erklären, daß moderne AKWs heutzutage aber wirklich sicher sind.

Zur Moderne gehört aber auch der Zweifel als treibende Kraft. Deswegen steht diese Luxemburg-Epistel am Anfang, die üblicherweise nur in Kurzform von den Vertretern aller möglichen Positionen zitiert wird. Aber es ging Luxemburg eben gar nicht um so etwas wie Gerechtigkeit oder Menschenrecht, sondern darum, daß nur durch den geäußerten Zweifel Fortschritt und gedeihliches Miteinander in der Gesellschaft möglich sind. Dialektik, die gerade den marxistischen Klassikern so wichtig war, ist halt nicht möglich ohne das Vorhandensein von Antithesen.

Diesen Teil des Denkens der Moderne schmeissen die politischen Enkel Luxemburgs gerade in die Rundablage. Denn besonders die heutige Linke ist großteils von einem Denken geprägt, das keine Zweifel erträgt. “Bothsideism” heißt das dann im heutigen Neusprech und “falsche Balance”, wenn doch mal in einer öffentlichen Diskussion jemand eine andere Meinung vertritt — im Newspeak von “1984” hieß das noch “Wrongthink”. Diese Herangehensweise ist nicht neu, kritisierte das doch Orwell 1948 angesichts der grauslichsten Perversionen der Moderne, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Nein, einen Vergleich mit diesen Zeiten und Regimen möchte ich da nicht anstellen, das wäre vermessen. Allerdings habe ich ein Problem damit, wenn die Linke gerade mit der Attitüde eines Banal-Antifaschismus — und das nicht nur in Corona-Fragen — Dissidenz taxfrei in die rechte Ecke stellt, um sie dann aburteilen zu können. Das ist wirklich kein Ghörtsi.

Disclaimer

Der Autor dieser Zeilen ist — trotz Bedenken — doppelt covidgeimpft, als gelernter Chemiker naturwissenschaftlich vorgeschädigt und verdient sein Geld unter anderem damit, spinnerten Computern Manieren beizubringen. Also weder impf- noch wissenschafts- noch technikfeindlich. Aber natürlich immer Skeptiker. Und allein die Entwicklung, daß “Skeptiker” in manchen Kreisen mittlerweile ein Schimpfwort geworden ist und wir in unserer bekenntnisverliebten Zeit auf unseren Impfstatus aufmerksam machen müssen, um ernstgenommen zu werden, sollte uns eigentlich zu denken geben.

Bernhard Redl

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