Fehlendes Problembewusstsein

Wenn es nach den Extremisten der Mitte geht, haben Rechtsextremismus und Demokratiekrise natürlich nichts mit politischer Ökonomie zu tun.

Von Karl Czasny.

Nachdem bekannt wurde, dass man bei einem Treffen von rechts- bis rechtsextrem positionierten Politikern und Aktivisten geheime Pläne zur Deportation von Millionen Migranten wälzte, kam es zu besorgten Kommentaren in den Medien und zu Massendemonstrationen für die Demokratie.

Herwig Hösele war einst Präsident des Bundesrats und damit einer der Spitzenvertreter des heimischen Parlamentarismus. Er muss also wissen, wovon er spricht, wenn er in einem Kommentar im Kurier vom 5.2.2024 „das westliche Modell von Liberalismus, parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Sozialversicherung, Pluralismus und Individualismus“ in Gefahr sieht. Es werde bedroht „von der autoritären Herausforderung durch China und Russland …, aber auch von populistischen Bewegungen rechts und links außen in den europäischen Gesellschaften“.

Nach Aufzählung dieser äußeren Feinde fragt Hösele, „welche Herausforderungen … sich den liberalen Demokratien im Inneren“ stellen. Dabei fällt ihm als erstes „das Thema Migration“ ein. Es „hat das Potential in ganz Europa antiliberale Parteien an die Macht zu bringen„. Aber die Migration ist in seinen Augen „beileibe nicht das einzige Problem, welches geeignet ist, das Vertrauen in die Regierenden zu untergraben“. Ergänzend nennt er „ideologiegetriebene Klimapolitik, Corona-Maßnahmen, Korruption, als bürgerfern und abgehoben empfundene EU Politik“ und schließlich auch noch „Fake News, künstliche Intelligenz, Blasenbildungen und Verschwörungstheorien“.

Damit hat Hösele bereits alle ihn umtreibenden Sorgen genannt, und dieses rasche Ende seiner Ursachensuche stimmt nun den Leser seines Kommentars erst so richtig sorgenvoll. Es zeigt nämlich, dass bei der Elite unseres politischen Systems keinerlei Verständnis dafür vorhanden ist, woran dieses System wirklich krankt und was (wenn die Dinge weiterhin so laufen, wie es derzeit aussieht) seinen Untergang herbeiführen könnte.

Auf einen kurzen Nenner gebracht besteht jenes Grundproblem der liberalen Demokratien in ihrer Selbstbeschränkung auf die Rolle eines Erfüllungsgehilfen unserer letztlich destruktiven, weil nur vom Profitstreben getriebenen Wirtschaft.

Die bereitwillige Unterordnung der Politik unter die kapitalistische Ökonomie brachte nur in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg gute Ergebnisse für alle Beteiligten. Denn die vom Krieg angerichteten umfassenden Zerstörungen ermöglichten damals ein lang anhaltendes robustes Wirtschaftswachstum, das nicht nur die Profite sprudeln ließ, sondern auch der großen Masse der Lohnabhängigen einen gesicherten Anteil an dem von Jahr zu Jahr verlässlich immer größer werdenden Kuchen sicherte.

Schon in den neunzehnsiebziger Jahren stieß dieses Wachstumsmodell jedoch an seine Grenzen: Die vom Krieg zerstörten materiellen und sozialen Strukturen waren wieder aufgebaut, die natürliche Umwelt zeigte erste irreparable Schäden und auch die Profite begannen zu schwächeln. Denn im Windschatten des jahrzehntelang ungestörten Wachstums hatten sich Arbeiterparteien und Gewerkschaften so starke politische Positionen in der liberalen Demokratie erobert, dass es dem Kapital nicht mehr möglich war, ausreichend starken Lohndruck auf die Beschäftigten auszuüben.

In dieser Situation fand man einen Ausweg, der zwar die Profite stabilisierte, zugleich aber der liberalen Demokratie jenen Schlag versetzte, von dem sie sich bis heute nicht erholte, und an dem sie womöglich schon bald zugrunde gehen wird. Der Ausweg hieß ‚Globalisierung‚, und es handelte sich dabei um ein wahres Wundermittel, das mehrere Fliegen mit einer Klappe schlug: Erstens erschloss man sich bei der Verlagerung der Produktion in ‚unterentwickelte‘ Weltregionen ein riesiges Reservoir an unorganisierten und daher extrem billigen Arbeitskräften. Zweitens konnte man mit der ständigen Androhung weiterer Produktionsverlagerungen wieder ordentlich Druck auf die hiesigen Arbeitskräfte ausüben. Und drittens bot der nun entstehende Weltmarkt unwiderlegliche Argumente zum Abbau des in den wachstumsstarken Nachkriegsjahren immer großzügiger ausgebauten Sozialstaats. Denn es galt jetzt ‚den Standort‘ wettbewerbsfähig zu machen für die Konkurrenz mit all den kostengünstigen neuen Standorten in den Entwicklungsländern.

Die Ärzte, die dieses Wundermittel propagierten, waren die neoliberalen Ökonomen, und ihr Therapievorschlag („Mehr Markt, weniger Staat“) klang wie Musik in den Ohren aller Konsumenten. Denn er versprach das Himmelreich, sprich: laufend sinkende Preise aller Waren. Dass diese Therapie verheerende Nebenwirkungen hatte, wurde erst klar, als sie die öffentlichen Strukturen der Daseinsvorsorge und das soziale Sicherheitsnetz bereits schwer beschädigt hatte. Diese materiellen Schäden waren aber nicht ihr schlimmstes Resultat. Noch verheerender waren ihre Folgen für das politische System.

Während nämlich die Produktionsverlagerungen und der damit verknüpfte Wandel der westlichen Gesellschaften zu kleinteilig strukturierten Dienstleistungsökonomien die Gewerkschaften entscheidend schwächten, verlor die große Masse der Lohnabhängigen das Vertrauen in die ihnen einst politische Stärke und Orientierung gebenden Arbeiterparteien. Denn die waren selbst den Versprechungen des Neoliberalismus auf den Leim gegangen und wurden nun von ihren einstigen Mitgliedern und Sympathisanten als Teil eines in seiner Gesamtheit gegen sie gewendeten politischen Systems erlebt. Eines Systems, zu dessen Vertretern in den Augen der sich verraten fühlenden kleinen Männer und Frauen auch die Medien und die Wissenschaft zählen. Hatte doch letztere in unzähligen Studien die scheinbare sachliche Notwendigkeit all der ihren Lebensstandard senkenden ‚Reformen‘ begründet, während erstere diese ‚Reformen‘ zuerst getrommelt und dann gefeiert hatten.

Der Verlust des Vertrauens großer Teile der Wählerschaft in ihre bisherigen Orientierungsgeber und das gesamte politische System schuf jenes Vakuum, in das nun die Rechtspopulisten vorstoßen. Sie greifen Enttäuschung und berechtigte Wut breiter Bevölkerungsschichten auf und leiten sie ab in Kanäle wie den Nationalismus und die Fremdenfeindlichkeit. Das erzeugt zwar Sturm und Unwetter in den politischen und sozialen Systemen, ist aber für das Kapital ungefährlich, rüttelt es doch nicht an der dienenden Unterordnung der Politik unter die profitgesteuerte Ökonomie. Letztlich besorgt damit auch der Rechtspopulismus die Geschäfte jener Ökonomie, weil er verhindert, dass sich die gewaltigen, aus Enttäuschung und Wut gespeisten politische Energien gegen die Selbstbeschränkung der Politik richten.

Die Rechtspopulisten arbeiten mit ihren Methoden der Ableitung von Enttäuschung und Wut schon seit den neunziger Jahren. So richtig in Fahrt kommen sie aber erst seit der großen Finanzkrise. Denn nun erweisen sich sämtliche neoliberalen Reformen als bloßes Strohfeuer, welches das Wachstum und die Profite nur sehr kurzfristig anhob und längerfristig bloß zur Zuspitzung aller inneren Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie führte. Nun haben Enttäuschung, Wut und Orientierungslosigkeit so breite Wählerschichten erfasst, dass sich die Rechtspopulisten anschicken, das Machtzentrum des politischen Systems zu erobern. Und sie werden sich auch in dieser für sie neuen Position wieder sehr nützlich für das Kapital erweisen. Denn nun dürfen sie dem politischen System jene autoritären Züge verleihen, welche die profitgeleitete Ökonomie benötigt, um auch in einem von multiplen Krisen geschüttelten Umfeld an der ihr eigenen Verfahrenslogik festhalten zu können.

Diese Ökonomie war einst Geburtshelfer des politische Systems der liberalen Demokratie, indem sie die davor herrschenden feudalen Strukturen hinwegfegte. Sie tat dies, weil sie freie Subjekte als Lohnarbeiter und Konsumenten benötigte. Und sie wird, wie eine lange Reihe von faschistischen und autoritären Episoden zeigt, dieses von ihr selbst aus der Taufe gehobene politische System jederzeit wieder vorübergehend suspendieren, womöglich gar endgültig vernichten, wenn es seine derzeit wieder einmal etwas mehr Nationalismus, Aufrüstung und Überwachungsstaat benötigende Dynamik behindert. Die Verfechter dieses Systems aber werden dem so lange keinen ernsthaften Widerstand entgegen setzen können, solange sie nicht begreifen, dass Demokratie dauerhaft nur dann überleben kann, wenn sie ihre Unterordnung unter die letztlich zerstörerische Ökonomie des Profits beendet und sich selbst der Wirtschaft bemächtigt, um ihr jene Ziele zu setzen, die von dem durch die Logik des Profits bestimmten Weltmarkt dramatisch verfehlt werden.

Dass dem eingangs zitierten Altpräsidenten des Bundesrats solch letztlich subversives Problembewusstsein fehlt, ist nicht wirklich schlimm, weil man in Fragen der Systemtransformation als Präsident a.D. quasi amtlich mit Blindheit geschlagen ist. Wirklich tragisch wäre es jedoch, wenn auch die gerade entstandene Massenbewegung zur Verteidigung der liberalen Demokratie die Augen vor den hier skizzierten Zusammenhängen zwischen Politik und Ökonomie verschlösse. Sie würde in diesem Fall schon sehr bald wieder völlig wirkungslos verpuffen.

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Anmerkung der Redaktion: Dass Herr Hösele von der ÖVP ist, versteht sich angesichts seiner Argumentation von selbst. Allerdings bleibt doch anzumerken, dass es sich bei diesem Politiker nicht um jemanden handelt, der lediglich den Job eines Bundesrats gemacht hat (ehemalige Bundesratspräsidenten gibt es zuhauf, das wird man irgendwann automatisch, wenn man bei der richtigen Landespartei ist, und bleibt es nur ein halbes Jahr). Nein, Herr Hösele ist quasi amtlich für die Zukunft dieses Landes zuständig, nämlich als Vorsitzender des „Zukunftsfonds der Republik Österreich“. Und er ist „Generalsekretär der Initiative für Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform“. -br-

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