Ukraine-Krise: Einfach kompliziert

Fundstücke und Anmerkungen

(Audiofassung für Lesefaule und RadiosenderInnen:
http://cba.fro.at/255247)

Herr Ascan Iredi, vorgestellt als Kapitalmarktexperte, meinte am 24.Februar im Börsenbericht der ARD: „Ein ganz ungeheures Potential würde sich da öffnen. Die Ukraine ist zum einen reich, das ist ihr Vorteil, auch für ihre Zukunft, und zum anderen ist das auch ein ganz, ganz großer Markt. … Grundsätzlich haben wir das Problem, daß Rußland die Hand darüber hält und dieses Land sich dadurch sehr schlecht und nur sehr langsam entwickelt. … Das Pro-Kopf-Einkommen ist sehr niedrig! … Das können wir aber andererseits nutzen, das könnte zu einer Art Werkbank werden, für die europäische Union. Und die Bodenschätze sind sehr wichtig, was wiederum den Reichtum für dieses Land sichert. …“

Man muß Börsianer nur einfach reden lassen und sie erklären dir die Weltpolitik: Ein Land, reich an Ressourcen, noch dazu pleite und an ein geringes Lohnniveau gewöhnt — wenn wir die an die EU binden, produzieren die für uns billig mit qualifizierten Kräften unter Nutzung ihrer Bodenschätze. Und exportieren können wir dann auch vielmehr dorthin. Danke, das ist Klartext.

*

Worum geht es? Also es geht definitiv nicht um das Wohlergehen der Menschen in der Ukraine, um die Demokratie dort oder die Einhaltung der Menschenrechte. Es geht auch nicht um die Rechte des
russischsprachigen Teils der Bevölkerung oder um die russischen Staatsangehörigen im Land. Und das „Völkerrecht“ ist erstens seit jeher immer ein Staatenrecht gewesen und zweitens immer schon gerne genutzt worden, um einen Krieg zu begründen.

Den imperialistischen Mächten EU und Rußland geht es zuerst einmal um ökonomische Chancen. Beide Seiten sind nicht undankbar über die Finanzkrise dort, denn damit kann man das Land einfach kaufen. Man nennt das dann „Kreditvergabe“ oder „Zeichnung von Staatsanleihen“. Hilfreich ist es dann auch noch, daß man ein Land, wenn es einmal ökonomisch abhängig ist, auch noch dazu „erziehen“ kann, „seine Hausaufgaben“ zu machen. Der IWF harrt schon darauf, seine
„Strukturanpassungsprogramme“ zu oktroyieren.

*

Es geht aber natürlich auch um militärische Interessen. Denn üblicherweise müssen osteuropäische Staaten zuerst einmal in die NATO, bevor sie in die EU aufgenommen werden können. Das war bei Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Bulgarien, Slowakei, Rumänien, Kroatien und dem Baltikum so. Also ist wohl auch für die Ukraine dieser Wartesaal vorgesehen. Damit wird zuerst die militärische Sicherheit für zukünftige Kapitalinteressen aufgebaut. Nur gehört die Ukraine halt zum letzen verbliebenen Rest des russischen Glacis — und speziell die Krim mit der dort stationierten Schwarzmeerflotte ist mit einer NATO-Mitgliedschaft inkompatibel. Wundert sich irgendwer über die jetzigen russischen Aktivitäten dort?

*

„Im Januar 2008 löste Jazenjuk eine politische Krise aus, als er gemeinsam mit Staatspräsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Tymoschenko einen Brief an die NATO unterschrieb, in dem um die Aufnahme der Ukraine in den offiziellen Beitrittsprozess auf dem anstehenden NATO-Gipfel in Bukarest gebeten wurde“, steht in der Wikipedia zu lesen. Damals war Arsenij Jazenjuk Parlamentspräsident, jetzt ist er neuer Regierungschef der Ukraine.

*

„Deutschlands Bundeskanzlerin Merkel protestierte heute bei einem Telefonat mit US-Präsident Obama energisch gegen die
völkerrechtswidrig fortgesetzte Stationierung von US-Truppen auf Guantanamo. Die USA sollten nach Ablauf des Pachtvertrages endlich die Souveränität Kubas anerkennen. Merkel zeigte sich auch betroffen über die Menschenrechtsverletzungen auf diesem Territorium.“ Das stand natürlich nicht in der Zeitung. Einfach, weil es Merkel nicht gesagt hat.

*

Was aber in der Zeitung steht, sind Kommentare über das „wahre Gesicht“ Putins resp. Rußlands. „Öl, Gas und Gewalt: Russland zeigt sein wahres Gesicht“ titelt ein Kommentar in der „Presse“. „Jetzt, da der olympische Friede von Sotschi vorbei ist, zeigt Putins Russland sein wahres Gesicht: Es ist die Fratze eines Schlägers, der sich mit Gewalt das holt, was ihm sonst verwehrt wird. Der ehemalige KGB-Offizier handelt nach dem Muster des Mafiapaten Don Corleone: Man macht dem Gegenüber ein Angebot, das er nicht ablehnen kann – tut er das trotzdem, fließt Blut statt Erdgas“, schreibt Michael Laczinsky.

Auch NEWS kennt – ganz ohne Ironie – den Feind: “Joker” Putin

Eine ebensolche Wahrheit erkennt sein Kollege Berthold Koller unter dem Titel „Der Kreml und der Westen: Putins wahres Gesicht“ in der FAZ: „Wladimir Putin kann, er zeigt es seinem Volk gerne, fast alles: reiten, schießen und sogar fliegen, ob mit Kranichen oder im Kampfflugzeug. Nur den Friedensfürsten zu spielen gelingt ihm nicht. Diese Maske saß schon in Sotschi schlecht. Nach Erlöschen des olympischen Strohfeuers aber können des Zaren falsche Kleider niemanden mehr täuschen. Zu deutlich tritt auf der Krim Putins wahres Gesicht hervor: das eines Autokraten, der sich bei der Verfolgung großrussischer Interessen einen Teufel um die Souveränität und Integrität anderer Staaten schert, also jene Grundsätze, die er immer bemüht, wenn er anderen am Zeug flicken will.“ Und: „Der Kreml träumt wieder von einem größeren Reich. Den darin liegenden Staaten spricht er, wie zu Zeiten der Breschnew-Doktrin, nur begrenzte Souveränität zu. Sie dürfen sich Putins Eurasischer Union anschließen, nicht aber der EU und der Nato. Verstoßen sie dagegen, wird ihnen der Gashahn abgedreht. Bleiben sie uneinsichtig, folgen ‚Unruhen‘, die ‚Bitte‘ um Einmarsch, Abspaltung – divide et impera auf Russisch.“

Der Mafioso, der Schläger, der Maskierte, der Autokrat —
Friedenspublizistik sieht anders aus. Fehlt nur noch: „Jeder Schuß — ein Ruß“. Und: Wer hat da gerade „Unruhen“ gefördert, die zum Sturz eines Präsidenten führten?

Da muß man ja sogar schon Deutschlands Ex-Kanzler Gerhard Schröder (der natürlich andere ökonomische Interessen gegenüber Rußland hat) dankbar sein, wenn er sagt: „Die Nato hat in der derzeitigen Lage keine Funktion, schon gar keine politische. Warum gibt es ständig Diskussionen von dort? Das schafft nicht Vertrauen, das schafft das Gegenteil.“ Politische Institutionen könnten helfen, „die Nato aber weniger, weil sie nicht mehr Vertrauen, sondern eher mehr Ängste schafft“. Und: „Nutzt es wirklich, wenn man sagt, die sollen rausgeschmissen werden aus der G-8-Konstruktion? Die G 8 ist eine Möglichkeit, die führenden acht Leute in der Welt zusammenzubringen und miteinander zu reden.“ So zitiert ihn die „Berliner Morgenpost“ — allerdings unter dem Titel „Schröder kritisiert die EU und schweigt zu Putin“.

Und auch ein anderer recht prominenter Ex-Politiker meldete sich zu Wort. Während die EU-Grünen eine recht seltsame Linie in dieser Debatte fahren kam vom ehemaligen grünen MEP Johannes Voggenhuber eine klare Ansage via Facebook: „Sehr geehrter Herr Aussenminister Kurz! Wenn Deutschland, Frankreich, Polen u. A. anstelle einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik die aggressive Einschnürungspolitik der USA gegen Russland verfolgen, sollte sich Österreich dann nicht
schleunigst auf seine nach der Verfassung gebotene Neutralität und eine Vermittlerrolle besinnen, anstatt die Aussendungen des deutschen Außenamts nachzubeten?“

*

Ja, es stimmt, auch von EU-kritischer Seite kam dieser Tage viel Blödsinn. So manche Gruselgeschichte war derart übertrieben, daß sich die EU-Fans leicht tun, diese als Propaganda des russischen
Geheimdienstes abzutun. Es wird wohl wirklich einige Anschläge auf Juden und Kommunisten gegeben haben und das ist sicher erschreckend, aber bei einem Umsturz, an dem auch Faschisten beteiligt sind, nicht verwunderlich.

Deswegen ist das neue Regime aber wohl nicht per se als ein
faschistisches anzusehen. Die am Maidan so präsenten Nazis stellen jetzt zwar ein paar Minister, waren aber hauptsächlich für den Umsturz notwendig. Auf lange Sicht sind die EU-inkompatibel — Nazis in der Regierung machen sich nicht so gut für einen Aufnahmekandidaten. Schließlich hat auch Ungarn seine braunen Horden, kontrolliert wird das Land aber von der bürgerlich-autoritären Regierung Orban. Und damit hat die EU — trotz zeitweiligem Gemotze aus Brüssel — keine echten Probleme.

Die ukrainischen Faschisten sind sicher ein schlagzeilenstarker Aufmacher. Aber die Realität ist viel banaler: Ein Vasallenregime wurde durch ein anderes abgelöst. Und wie so oft in der Geschichte reden die einen von Revolution und die anderen von Putsch. Die Mehrheit des Volkes hat das getan, was sie bei Umstürzen immer tut: Schweigen und hoffen, daß es nicht schlimmer kommt. Aber diese Interessen sind ja sowieso allen Machtparteien egal.

*

Ich mußte in den letzten Tagen immer wieder an Samuel Huntington denken und seinen „Clash of Civilisations“. Der
US-Politikwissenschafter hatte 1993 in einem Aufsatz postuliert, daß es acht Großkulturen auf der Welt gäbe, die miteinander inkompatibel wären — unter anderem die „westliche“ und die „slawisch-orthodoxe“. Dieser Aufsatz wurde damals als Versuch einer Begründung angesehen, warum der Kalte Krieg auch nach dem Ende der Sowjetunion weitergehen müßte. „Das Echo auf Huntingtons These war überwältigend, aber gespalten. Viele feierten ihn als amerikanischen Oswald Spengler, der seine apokalyptischen Reiter aussendet und den US-Hegemon aus seinem hedonistischen Schlummer reißt. Andere sahen in ihm einen
ideologischen Einpeitscher, der mit seiner haltlosen Kulturtheorie Amerikas Anspruch auf Weltherrschaft in Stein meißelt“, schrieb retrospektiv 2006 „Die Zeit“.

Es scheint heute fast so, als hätte Huntington irgendwo recht gehabt — bleibt nur die Frage, ob die Bewahrheitung seiner These vielleicht etwas damit zu tun hat, weil dieses Denken im Westen so hilfreich war, die alten Feindbilder aufrecht zu erhalten. Man wollte Huntington einfach glauben. Allerdings ist er für die heutigen Kalten Krieger unbrauchbar geworden, denn die Ukraine liegt in seiner Theorie auf der östlichen Seite der Grenze zwischen den Kulturen. Seinen Vorstellungen nach also wäre das Land nicht in EU und NATO
eingliederbar.

*

Übrigens gibt es da noch ein Land, daß hart an Huntingtons Grenze liegt, ja fast als Grenzlinie definierbar ist: Transnistrien. War da nicht mal was? Dieser — völkerrechtlich nicht anerkannte, faktisch aber existierende — Staat hat die Geschichte, die sich jetzt vielleicht ähnlich auf der Krim wiederholt, schon hinter sich. Ein schmaler Landstrich, östlich des Dnister gelegen und formal Moldawien zugehörig, ist von einer mehrheitlich russischen Bevölkerung bewohnt.

Dieser Kleinstaat mit einer halben Million Menschen möchte nicht Teil des mehrheitlich rumänischsprachigen Moldawiens sein, sondern Teil Rußlands. Auch wenn selbst Rußland den Staat formal nicht anerkennt, so stehen doch zur Sicherung seiner de-facto-Existenz russische Truppen im Land.

Transnistrien hat nur zwei Nachbarn, zwischen denen das Land eingeklemmt ist: Moldawien und Ukraine. Und beider Regierungen sind jetzt bestrebt, in die EU und in die NATO zu kommen. Also könnte es auch hier bald wieder sehr eng werden.

*

Es ist so einfach, die Interessen im Ukraine-Konflikt zu durchschauen, wenn man mal das ganze Brimborium der Propagandaabteilungen hüben wie drüben ignoriert. Aber die Lage ist kompliziert und beide Seiten haben sich — und uns — in etwas hineingeritten, aus dem es selbst bei gutem Willen schwierig werden wird, wieder rauszukommen. Man kann nur hoffen, daß sich die Welteliten nicht wieder einmal für die einfachste Lösung entscheiden. Das wäre dann nämlich
Krieg.

Bernhard Redl

*************************************************
‚akin – aktuelle informationen‘
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
Blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
Facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
Mail: akin.redaktion@gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW

Hinterlasse einen Kommentar