Karl Marx, Andreas Babler und das Elend der Philosophie

Zur Kolumne von Isolde Charim im Falter Nr.23/23
[akin-Printausgabe 12/2023]

Einst kritisierte Karl Marx ein vom französischen Philosophen Pierre-Joseph Proudhon verfasstes Werk. Es trug den Titel „System der ökonomischen Widersprüche oder: Philosophie des Elends“, weshalb der gern mit Worten spielende Marx seine dagegen gerichtete Streitschrift „Das Elend der Philosophie“ nannte. Seit jenen Tagen sind nun schon 176 Jahre vergangen, aber das Elend der Philosophie ist um nichts geringer geworden. Es verbindet sich inzwischen nur mit anderen Namen.

Hierzulande muss man dabei etwa Isolde Charim denken. Sie ist zwar kein so großes Kaliber wie der als Ahnherr des Anarchismus geltende frühsozialistische Denker Proudhon, aber mit zwei Kolumnen (in taz und Falter) immerhin eine fixe Größe in den linken Diskursen des deutschen Sprachraums. Die Philosophin widmete ihre jüngste Falter-Kolumne dem neuen SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler und warb darin um Verständnis für dessen Bekenntnis, der Marxismus sei „eine gute Brille, um auf die Welt zu schauen“. Diese Absicht Charims ist sehr lobenswert. Leider aber steht das gedankliche Niveau ihrer Argumentation in so krassem Gegensatz zur Bedeutung ihres Anliegens, dass der erwähnte Text nur zum Beweis der These vom fortgesetzten Elend der Philosophie taugt.

Einleitend hält Charim in ihrer Kolumne fest, dass es ihr nicht um eine Kurzdarstellung der Lehren und Anliegen des Marxismus gehe. Ziel sei vielmehr zu erläutern, „welche Funktion“ das Festhalten an Marx für diejenigen habe, die sich auf ihn berufen. Um diese Funktion verständlich zu machen, thematisiert Charim zunächst eine in den letzten zwanzig Jahren von ihr beobachtete Verschiebung bei den zentralen Themen der Politik: Für den politischen Erfolg sei es immer weniger wichtig geworden, ökonomischen Wohlstand zu schaffen. „Gerade rechte Populisten führen vor, dass man mit Kulturkampf, mit Nationalismus, kurzum: mit Identität punkten kann. Wahlentscheidungen scheinen sich von wirtschaftlicher Rationalität, von ökonomischen Interessen ein Stückweit zu entkoppeln. Mehr noch: Themen aller Art greifen erst, wenn sie identitätsmäßig aufgeladen werden.“

Die adäquate linke Antwort auf diese Verschiebung ist Charims Meinung nach nicht die Rückkehr zu einer Betonung von wirtschaftlichen Fragen und sozialen Maßnahmen. „So funktioniert das nicht“. Denn in der Ökonomie gehe es doch immer nur „um Verteilungsfragen, um ein Mehr-oder-weniger, um das also, was verhandelbar“ sei. Man müsse sich der Rechten vielmehr auf jenem Kampffeld stellen, auf dem es um das geht, was die Menschen als absolut und unteilbar erleben. Und dieses Feld sei eben das der Identitäten. Die „Antworten der Linken auf die Rechte“ dürfen daher, „wollen sie erfolgreich sein, nie nur ökonomisch sein. Sie brauchen also ein Moment des Unteilbaren. Ein Moment von Identität.“ Und genau darin liege die politische Funktion der Berufung auf Marx. Sie stehe „für das, was man früher Klassenbewusstsein genannt hat“, denn der Name ‚Marx‘ sei ein „Identitätsmarker“ in zweifachem Sinne: Einerseits für die Identität des sich jeweils auf ihn berufenden Politikers im Sinne von Entschiedenheit, Unversöhnlichkeit und Nichtkorrumpierbarkeit. Andererseits für die Identität der von ihm vertretenen „Leute“, denen er so etwas „Unteilbares wie Würde und Respekt“ verschaffen will.

Lässt man sich von diesen Überlegungen Charims auf das von der Rechten beherrschte Feld der Identitätskämpfe locken, ist der Kampf schon verloren, bevor man zu kämpfen beginnt. Denn das hier von ihr vorgetragene Argument zeigt, dass sie nichts aber auch schon gar nichts von der Rolle der Ökonomie in unserer Gesellschaft versteht – oder anders gesagt, dass sie vielleicht viele Texte von Marx gelesen, aber keinen davon auch nur ansatzweise kapiert hat. Auch Marx ging es nämlich letztlich um jene von Charim betonten unteilbaren Qualitäten wie Würde und Respekt. Er hatte aber im Unterschied zu ihr erkannt, dass diese unverzichtbaren Bestandteile des Menschseins in einer vom Prinzip der Profitmaximierung gesteuerten Ökonomie zwangsläufig vor die Hunde gehen. Im Gegensatz zu Charim waren daher für ihn ökonomische Auseinandersetzungen nie ein bloßes Ringen um Umverteilung, sondern immer Elemente eines Kampfs, in dem es letztlich ums Ganze, sprich: um die Überwindung des profitgesteuerten Wirtschaftens geht. Und diese Orientierung am Systembruch gibt seinem ökonomischen Denken genau jenes Moment des Unteilbaren, Absoluten, das Charim in einer von der Ökonomie losgelösten (bzw. nur oberflächlich an sie angebundenen) Identitätspolitik sucht.

Am Schluss noch ein Wort zu Andreas Babler: Ich selbst bin seit mehr als fünfzig Jahren SPÖ-Mitglied und habe bei der Mitgliederbefragung für ihn gestimmt, weil ich hinter seinem Bekenntnis zur „Brille des Marxismus“ die Andeutung einer den Systembruch nicht von vornherein ausschließenden Haltung zu erkennen glaube. Sollte er diese Berufung auf Marx aber als ein identitätspolitisches Statement im Sinne Charims verstand haben, wird er mit Sicherheit bloß ein weiteres Kapitel in einer ganz anderen Elendsgeschichte schreiben – in jener des Elends der Sozialdemokratie.

Noch ist alles offen, und die Hoffnung stirbt zuletzt.

Karl Czasny

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