Die große Schuld

Zur jüngsten Zuspitzung des Nahostkonflikts

Von Karl Czasny

Die Frage nach den Ursachen der Ereignisse des 7. Oktober 2023 an der Grenze des Gazastreifens lässt mich nicht los. Je länger ich über sie nachdenke, desto deutlicher sehe ich in diesem Geschehen die (vorläufige?) Spitze eines riesigen, immer weiter anwachsenden Berges von Schuld.

Er ist so groß, dass sich seine Basis meinem vom Gipfel nach unten gerichteten Blick in dichtem Nebel verbirgt. Schemenhaft tauchen aus ihm erste tiefe Ablagerungen von Schuld auf. Es sind die antisemitischen Pogrome vergangener Jahrhunderte, die bei den Juden die Sehnsucht nach einer Geborgenheit und Schutz gebenden Heimat weckten. Dass sich diese Sehnsucht gegen Ende des 19. Jahrhundert im Gefolge der französischen Dreyfus-Affäre und neuer Pogrome in Osteuropa zur Idee der Gründung eines kolonialistischen Staates verdichtete, ist keine den Juden anzurechnende Verfehlung, sondern Kollektivschuld einer damals vom Geist des Kolonialismus geprägten europäischen Gesellschaft.

Auch der Aufstieg dieser Idee zur ideologischen Basis eines von der Weltgemeinschaft anerkannten Staates, die dessen Selbstverständnis bis zum heutigen Tag mit dem Makel des Kolonialismus belastet, geht nicht auf das jüdische Schuldkonto. Er ist vielmehr den Vorfahren von uns nichtjüdischen Österreichern und Deutschen anzulasten. Denn sie haben jenen Genozid an den Juden geplant und vollzogen, der schließlich in großen Teilen der Welt und vor allem im Judentum selbst die Überzeugung festigte, dass eine dauerhafte Lösung der sogenannten „Judenfrage“ nur in einem eigenen, äußerst wehrhaften Staat bestehen könne.

Nach dem zweiten Weltkrieg kommt es dann zu weiteren Einzahlungen auf die Schuldkonten von Österreich und Deutschland. Denn nun erweist es sich als sehr bequem für uns, dass viele jüdische Emigranten nicht in die alte Heimat zurückkehren, sondern sich in Israel eine neue suchen – so löst sich das Problem des heimischen Antisemitismus quasi von selbst und es bleibt nur der Antizionismus der aus dem arabischen Raum zu uns geflüchteten Menschen, den wir hurtig und pauschal zu einem Antisemitismus umdeuten und aufs strengste verurteilen. Geplagt von schlechtem Gewissen wegen der einst von unseren Vorfahren an den Juden begangenen Verbrechen drücken wir nun dem Staat Israel beide Daumen für sein Überleben und halten die Augen fest verschlossen vor all dem Unrecht, das in seinem Namen geschehen muss, damit er gegen den Willen der auf seinem Gebiet ansässigen palästinensischen Bevölkerung und inmitten einer feindlich gesinnten arabischen Umwelt überleben kann.

Denn jetzt laden auch die Juden Schuld auf dem bis dahin nur von unseren Vorfahren aufgetürmten Schuldgebirge ab. Sie klammern sich trotzig an die als Lehre aus dem Holocaust gezogene Parole eines „Nie wieder“, das ihnen alles Nachgeben gegenüber den Palästinensern als Rückfall in grausam bestrafte Schwächlichkeit und Vertrauensseligkeit erscheinen lässt und wollen mehrheitlich nicht sehen, dass sie, die einst Ausgegrenzten, nun selbst ein Regime errichten, das deutliche Züge der Ausgrenzung zeigt. Darüber hinaus sind seit den im Sechstagekrieg des Jahres 1967 erzielten Landgewinnen viele von ihnen Anhänger einer religiös-nationalistischen Siedlerbewegung, die bis heute ein schier unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung des israelisch-palästinensischen Konflikts darstellt.

Der rechtsgerichtete religiöse Fanatismus jener Bewegung leitet über zum palästinensischen Anteil der Schuld an den furchtbaren Ereignissen im Grenzgebiet zum Gaza-Streifen. Denn hinter ihnen steht mit der Hamas eine radi­kalislamistische Organisation, deren menschenverachtender religiöser Fanatismus das Pendant des jüdischen Fundamentalismus ist. Genau wie bei der Entstehung des Zionismus gilt es aber auch im vorliegenden Fall die im Umfeld der Bewegung angesiedelten Aspekte von Mitschuld zu beachten.

So wie die an der Wiege des Zionismus stehende Verzweiflung der Juden in jahrhundertelanger Ausgrenzung wurzelte, war die Verzweiflung der palästinensischen Massen, die 2006 entscheidend zum Sieg der Hamas bei den Wahlen im Gazastreifen beitrug, Resultat einer fortgesetzten Ausgrenzung – in diesem Fall durch den Staat Israel. Und so wie die kolonialistischen Züge des Zionismus von einem allgemeinen Zeitgeist geprägt waren, der seinerseits in einer menschenverachtenden Ökonomie mit unstillbarem Hunger nach Rohstoffen, Arbeitskräften und neuen Absatzgebieten wurzelte, ist auch beim Islamismus der Hamas auf die Einbettung in einen übergreifenden Zeitgeist und dessen ökonomische Grundlage zu achten. Dabei kommt dann weltweite Mitschuld an der aktuellen Zuspitzung des Nahostkonflikt ans Tageslicht.

Zum einen denke ich hier an die universelle Hochkonjunktur des religiösen Fundamentalismus als Reaktion auf die vom Untergang der Sowjetunion ausgelöste Krise aller säkularen Utopien. Der Aufstieg der Hamas und das ihn bedingende Versinken der PLO (einstige Vorkämpferin für einen palästinensischen Staat) in Korruption und politische Bedeutungslosigkeit sind nur zwei kleine regionale Episoden im Rahmen jenes von der gesamten Menschheit zu verantwortenden Geschehens. Zum anderen denke ich dabei an die extreme Aggressivität, mit der sich der neue religiöse Fundamentalismus in großen Teilen Nordafrikas und des Nahen Osten gegen die gesamte westliche Kultur (für die auch Israel steht) richtet. Diese Aggressivität ist Antwort auf die enge Verknüpfung jener Kultur mit einer von den Metropolen des Westens dominierten, also auch von uns Europäern mitzuverantwortenden Ökonomie, die für die übergroße Mehrzahl der Menschen der genannten Region keine anderen Rollen bereit hält als die von ausgebeuteten, oder an den Rand gedrängten Verlierern und Flüchtlingen.

Die Aufzählung der aufeinander geschichteten und ineinander verschachtelten Ablagerungen von Schuld wäre unvollständig, wenn sie die Mitverantwortung der Umwelt für die Konflikte der Juden mit ihren unmittelbaren Widersachern bloß unter Stichworten wie ‚Zeitgeist‘ und ‚Ökonomie‘ erwähnen wollte. Denn selbstverständlich wird die furchtbare Dynamik dieser Konflikte seit ihrer mit der Gründung des Staates Israel einhergehenden Verlagerung in eine der Bebenzonen der Weltpolitik auch auf politischer Ebene von außen beeinflusst. Die im Hintergrund agierenden Drahtzieher der Nachbarländer und Regionalmächte sowie der auf noch höherer Ebene fuhrwerkenden Weltmächte machen sich schuldig, weil ihre Art des Umgangs mit diesem Konflikt zeigt, dass es ihnen offensichtlich nicht um das Wohl der unmittelbar von ihm betroffenen Menschen geht, sondern bloß um ihre eigenen Interessen (die in den seltensten Fällen mit denen der großen Mehrzahl der Bürger Ihres jeweiligen Landes ident sind).

Begreife ich den Nahostkonflikt in der eben skizzierten Weise als riesiges Gebirge von Schuld, dann erscheinen mir die vor zwei Wochen begangenen Verbrechen um nichts geringer als sie sind. Sie werden aber besser verstehbar für mich, wobei dieses Verstehen nicht zum Entschuldigen führt. Es bewahrt mich bloß davor, die für die Massaker verantwortlichen Palästinenser als Ungeheuer, oder Teufel zu sehen. Denn ich erkenne in ihrem Tun, so schrecklich es war, auch ein Moment des Freiheitskampfs gegen jahrzehntelange Ausgrenzung. Und diese Sichtweise führt mich weiter zu der Frage, ob wohl auf dem nun erreichten Gipfel zahlloser Ablagerungen von Schuld auch künftighin Schuld um Schuld abgelagert wird – oder ob die Untaten des 7. Oktober 2023, gerade wegen ihrer Monstrosität, dieses Gebirge von Schuld womöglich gesprengt haben. Denn sie zeigten den Irrwitz der tödlichen Spirale von Untat und Vergeltung mit unüberbietbarer Drastik auf und machten so deutlich, dass es eine lebenswerte Zukunft für Palästinenser und Juden nur dann geben wird, wenn sie aus dieser Spirale ausbrechen und aufeinander zugehen.

Hinterlasse einen Kommentar