Tanz den Nowitschok!

Woher die russischen Kampfstoffe stammen, wieso sich britische Militärs so gut damit auskennen und was das mit einem Döblinger Gymnasium zu tun hat.

Weiß noch irgendjemand, wer Richard Kuhn war? Er war führend in der Vitamin-Erforschung tätig. Dafür erhielt der gebürtige Wiener 1938 den Chemie-Nobelpreis. 1973, 6 Jahre nach seinem Tod, wurde nach ihm ein Weg in Penzing benannt. Schließlich ist man ja stolz, wenn ein Kind dieser Stadt einen Nobelpreis bekommt.

Seit 2018 heißt der Weg nicht mehr so und auch die „Gesellschaft Deutscher Chemiker“ verleiht heute nicht mehr die „Richard-Kuhn-Medaille“. Die Nicht-mehr-Ehrung hat einen Grund: Er war nicht nur ein glühender Nazi, sondern auch einer der „Väter“ jener Kampfstoffe, von denen wir erst in den letzten Jahren in den Medien als „Nowitschok“ gehört haben.

Denn so „neuartig“, wie die Bezeichnung nahelegt, sind diese sowjetischen Kampfstoffe – die in dieser Form erst viele Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1990 entwickelt worden sein sollen – gar nicht. Und auch eben nicht nur sowjetisch.

Kuhn entwickelte 1944 zusammen mit seinem Team den Kampfstoff „Soman“. Das bekanntere, aber weniger wirksame „Sarin“ wurde schon ein Jahr vorher bei der Suche nach einem neuen Insektizid von Gerhard Schrader entwickelt. Beide Stoffe funktionieren aber nach dem selben Prinzip: Ein fluoriertes Organophosphat blockiert die Acetylcholinesterase.

Nach dem Zweiten Weltkrieg teilten sich – vereinfacht gesagt – die Alliierten die Forschungsergebnisse auf: Die von Kuhn gingen großteils in die Sowjetunion, die Briten sicherten sich die von Schrader. Was die britischen und sowjetischen Chemiker damit machten, war natürlich jahrzehntelang geheim und bis heute sind da nicht alle Details geklärt. Etwas Licht in die Sache brachte erst 1991 der Chemiker Wil Mirsajanow, der aber nur indirekt mit dem Nowitschok-Programm zu tun hatte. Er veröffentlichte auch einige Formeln der Kampfstoff-Gruppe, die aber aus rund hundert verschiedenen Verbindungen bestehen soll.

Als 2018 der ehemalige Doppelagent Skripal und dessen Tochter einen Giftanschlag nur knapp überlebten, wurde von den britischen Behörden verlautbart, es handle sich um ein Gift aus der Nowitschok-Gruppe. Ermittelt habe das das Forschungszentrum in Porton Down. Das war auch sehr glaubwürdig, denn dieses Institut arbeitete offiziell bis etwa 1958 an Kampfstoffen auf Basis eben des verwandten Sarins – Menschenversuche inclusive. Bis heute aber unterliegt die Forschung in Porton Down großteils strikter Geheimhaltung, auch wenn Teile des Instituts mittlerweile nicht mehr dem Kriegsministerium sondern der
Gesundheitsbehörde unterstellt sind.

Die Forscher von Porton Down machten aber auch keine näheren Angaben darüber, welches Nowitschok-Gift es denn genau gewesen sei, mit dem die Skripals vergiftet worden waren. Kein Wunder, denn in den meisten Fällen läßt sich das Gift nur über seinen Metaboliten Methylphosphonsäure nachweisen – und der ist bei allen diesen Stoffen gleich, also auch bei Sarin. Übrigens auch bei den als V-Kampfstoffen bekannten Substanzen, die vom britischen Konzern ICI auf der Basis von Schraders Forschungen als Pestizid entwickelt worden waren, wegen ihrer extremen Giftigkeit schnell wieder zurückgezogen, aber genau deswegen von Porton Down adoptiert wurden. Von dort ging diese Entwicklung an die US-Armee, die 1959 im „Edgewood Arsenal“ die Möglichkeiten zur militärischen Anwendung erprobte – „VX“ gilt bis heute als einer der schlimmsten
Nervenkampfstoffe. Ab da verbreiteten sich diese Giftstoffe in die Arsenale vieler Regierungen weltweit. Manche hatten ihre Kenntnisse über die Produktion aus Moskau, manche aus Washington und London, je nach Bündnislage oder Spionagetätigkeit.

Im Fall Nawalny soll aber tatsächlich noch etwas von dem Originalgift gefunden worden sein — wenn auch die Berichte darüber doch recht widersprüchlich sind. Aber selbst wenn das stimmen sollte, ist das noch kein Beweis für den Urheber. Die Hintergründe sprechen natürlich sehr für die These russischer Agenten. Wenn Moskauer Stellen behaupten, es könnten auch andere Geheimdienste für die Vergiftungen verantwortlich sein, klingt das nach Schutzbehauptung. Praktisch unmöglich wäre sowas aber rein technisch wohl nicht, denn ein Nowitschok-Nachweis ist eben nicht mit einem eindeutigen Fingerabdruck zu vergleichen.

Ach ja und vielleicht sollte man doch wieder mehr des Chemie-Nobelpreisträgers aus Wien gedenken. Nicht unbedingt ehrend, aber vielleicht auch nicht ignorierend: Der frühere Richard-Kuhn-Weg heißt jetzt „Stadt-des-Kindes-Weg“. Im offiziellen Geschichtewiki der Stadt Wien, das ansonsten immer sehr ausführlich ist, ist unter diesem Stichwort heute lapidar zu lesen, daß der Weg seit 2018 eben anders heißt, nicht warum. Das findet man lediglich unter dem Eintrag „Richard Kuhn“, weil man einen Nobelpreisträger halt doch nicht völlig ignorieren kann.

Dieser Weg hat übrigens auch eine Kreuzung mit der Wolfgang-Pauli-Gasse. Denn der Physik-Nobelpreisträger ist nicht nur wie Kuhn 1900 in Wien geboren, sondern besuchte auch das selbe Döblinger Gymnasium. Daher befindet sich auch auf diesem Gebäude bis heute eine gemeinsame Gedenktafel für beide: Kuhn und Pauli. Gleichwertig liest man da die Namen von diesem Dr. Seltsam und dem Physiker, der wegen seiner jüdischen Herkunft in die USA flüchten mußte.

Irgendwie ist jede Geschichte immer auch ein bisserl eine Nazigeschichte. Und in Wien will man über solche Geschichten genausowenig reden wie in London oder Washington. Notfalls sind sowieso immer die Russen schuld an allem. Da braucht es nun wirklich keinen Beweis.

Bernhard Redl

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