Die Sache mit der Objektivität

Fortsetzung der Wissenschaftsdebatte, eine Antwort auf Judith Wieser und eine Präzisierung von Bernhard Redl

Soweit auseinander, wie es den Anschein haben mag, sind unsere beiden Positionen gar nicht. Ich gebe Judith Wieser in fast allem Recht. In einem Detail, der Forschungsgeschichte des Klimawandels, muß ich ihr allerdings widersprechen. Die grundlegende Theorie über einen Treibhauseffekt durch Kohlenstoffdioxid ist ein gutes Jahrhundert alt, aber allgemein anerkannt ist sie nicht seit den 50ern. Sagen wir, seit den 70ern ist sie zumindest weitgehend anerkannt, daneben gab es aber auch noch Theorien, daß eine neue Eiszeit komme.

Das mag eine Petitesse der Kritik sein, aber sie zeigt, daß Wissenschaft generell weder eine kurvenlose Autobahn ist noch endgültige Ergebnisse liefert. Als Newton der berühmte Apfel auf den Kopf gefallen sein soll, erkannte er das Prinzip der Gravitation – was das aber wirklich ist, wußte er nicht so genau und wir wissen heute zwar viel mehr darüber, jedoch vollständig aufgeklärt ist dieses Prinzip immer noch nicht. Erst 2017 wurde der Nobelpreis für den Nachweis von Gravitationswellen verliehen. Deren Existenz hatte schon Einstein vermutet, aber einen Beweis gab es dafür nicht.

Vielleicht lachen in hundert Jahren die Physiker über unser Verständnis von Gravitation, wie wir heute über die Phlogistontheorie lachen. Denn so gut wie das ganze 18. Jahrhundert lang galt es als wissenschaftlich erwiesen, daß bei Verbrennungen ein Stoff entweicht, den man als „Feuerstoff“ ansah und dem man einen dazu passenden griechischen Namen verpaßte. Mit dieser Theorie ließ sich so gut wie jede Beobachtung von Verbrennungsprozessen erklären. Erst Lavoisier bewies in einem Experiment das Prinzip der Oxidation. Dieser landete in der französischen Revolution dann auf der Guilottine, nicht nur, aber wohl auch deswegen, weil er Marat – Arzt, Naturwissenschaftler und einer der Anführer der Revolution – gerade in der Frage dieses chemischen Prozesses massiv kritisiert hatte.

Vorläufige Wissenschaft

Wissenschaft, auch Naturwissenschaft ist kein abgeschlossener Prozeß, eher ein Work in Progress, wo man mit einstweiligen Erkenntnissen umgehen muß. Daher ist es aber in unserem konkreten Fall auch ein Fehlschluß, aus der, wenn auch kurzen, so doch hochintensiven Forschungsgeschichte der aktuellen Covid-Impfstoffe zu schließen, daß die Ergebnisse dieser Forschung als endgültig richtig angesehen werden können. Daß deren Nutzen eventuelle Schäden überwiegt, ist wahrscheinlich, aber nicht unbestreitbar. Das gerade in Medizin und Biologie, aber auch den Umweltwissenschaften, immer wieder geforderte Vorsorgeprinzip wird hier völlig ignoriert. Denn in einer Krise wird eine schnelle Lösung gesucht und Kritik erscheint unerwünscht.

Freie Wissenschaft

Womit wir beim nächsten Punkt wären: Der freien Wissenschaft. Denn das ist ein Mythos. Wissenschaft ohne anderes Interesse als Erkenntnis über das Wesen der Dinge mag für Archimedes oder Newton möglich gewesen sein, vielleicht auch für Hawking. In den meisten Fällen heutiger Wissenschaft aber braucht es potente Geldgeber mit handfesten Eigeninteressen. Und die finanzieren nur etwas, wenn der Output ihnen einen ordentlichen Investment-Return liefert. Das muß nicht unbedingt ein Gewinn in einem engen kommerziellen Sinne sein – auch hier sind die aktuellen Impfstoffe ein gutes Beispiel: Sie müssen funktionieren und unbedenklich sein! Die wegen Zögerlichkeit immer wieder gescholtene Politik kann eine wissenschaftliche Kritik an den Impfstoffen nicht akzeptieren, weil das zur Folge hätte, daß der Impfstoff eben nicht „die Lösung“ der Krise wäre. Das heißt jetzt nicht, daß es eine fundierte wissenschaftliche Kritik in diesem Bereich gäbe, es heißt nur, daß hier sowohl bei den Impfstoffherstellern als auch bei sonstigen Profiteuren des Kapitalismus genauso wie in der Politik ein massives Interesse an einer bestimmten wissenschaftlichen Deutungshoheit besteht. Ein „Qui bono?“ muß daher ignoriert werden und es ist auch kein Wunder, daß eine Forschung die gegen diese Deutungshoheit agiert, kaum mit einer Dotierung rechnen kann. Es gilt das Palmström-Prinzip, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.

Gäbe es nur Forschung, die quasi nur l’art pour l’art existiert, und nur Forscher, die sich auch über eine experimentelle Widerlegung ihrer Thesen freuen, weil auch diese zum Erkenntnisgewinn beiträgt, und wären diese Erkenntnisse immer unwiderlegbar gesichert, wäre eine Kritik an Wissenschaft natürlich Unsinn. Aber so ist es halt nicht. Eine Wissenschaftskritik kann sich daher auch nicht auf reine Ethoskritik beschränken, also darauf, die Frage zu stellen, ob man auch alles machen dürfe, was man machen kann. Es geht nicht nur darum, was man dem modernen Prometheus erlauben kann. Schon deswegen nicht, weil es bei einer reinen Ethikfrage meist gar nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern um deren Anwendung, also mehr um Technik und weniger um Wissenschaft geht.

Wissenschaftskritik muß sich auch damit beschäftigen, wie ein wissenschaftlicher Output überhaupt zustandegekommen ist und ob auch jede Antithese wirklich gebührend gewürdigt worden ist. Eine solche Wissenschaftskritik ist unabdingbar, um tatsächlich auch nur vorläufig gesicherte Erkenntnisse zu erhalten.

Exakte Wissenschaft

Allerdings ist unser Wissenschaftsbild in der öffentlichen Debatte auch sehr eingeschränkt. Hier ist auch dringend Diskurskritik gefragt. Denn was da unter Wissenschaft verstanden wird, ist zumeist eine Einschränkung auf Naturwissenschaften und naturwissenschaftlich basierte Technik. Dabei wird dieser Bereich auch noch taxfrei als exakte Wissenschaft dargestellt – man kann darüber streiten, was überhaupt als exakte Wissenschaft angesehen werden kann und wie man das definiert, die Medizin gehört aber sicher nicht dazu. Diesbezüglich wird ein Bild gezeichnet, die moderne Medizin im Gegensatz zu dem, was sich als „ganzheitliche Medizin“ versteht, als die Anwerndung wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse zu stilisieren. Mit der Abgrenzungsnotwendigkeit von solchem Unfug wie Granderwasser und Auramassage wird aber ein rein mechanistisches Menschenbild produziert – ein massiver Rückschritt gegenüber einer mittlerweile auch schulmedizinischen Erkenntnis, daß ein Patient eben ganzheitlich betrachtet werden muß und nicht nur auf ein genau lokalisiertes somatisches Problem reduziert werden darf. In der (im doppelten Wortsinn) medizinischen Praxis passiert aber genau das und das ist auch der Grund, warum viele Menschen lieber zu einem Schamanen als zu einem Arzt gehen, weil dieser ihnen das Gefühl gibt, als Person wahrgenommen zu werden. Die Ignoranz der „Götter in Weiß“ gegenüber den tatsächlich medizinischen Bedüfnissen ihrer Patienten erzeugt erst das Renommee der Scharlatane. Letztendlich führt das dazu, daß sogar die Mediziner selbst ihr Defizit im Bereich einer ihnen viel zu aufwendig erscheinenden ganzheitlichen Behandlung durch esoterischen Unfug beheben wollen. Da verschreibt man dann halt auch Globuli und empfiehlt einen Energiering ums Krankenhaus – weil das halt viel einfacher ist.

Mehrzahl Wissenschaften

Zurück zur Diskurskritik: „Die“ Wissenschaft gibt es nicht. Einmal abgesehen davon, daß viele technische Disziplinen, wie eben etwa die Medizin- und Biotechnik, heute so ohne weiteres dazugezählt werden, gibt es es neben den Naturwissenschaften auch Geistes- und Sozialwissenschaften. Letztere leiden sehr darunter, daß ihre Beweisführung noch viel difiziler ist als in den Naturwissenschaften. Das führt beispielsweise in der Soziologie zu einer Abkehr von philosophischen und psychologischen Ansätzen und einer Zuwendung zur Mathematik. Der Einzelmensch als soziales Wesen so wie die menschliche Gemeinschaft sind schwerlich exakt analysierbar und damit ist ein Beweis im naturwissenschaftliche Sinne nicht machbar – mit Hilfe von Statistiken aber kann man Erkenntnisse erlangen oder auch nur produzieren, die den Anschein erwecken, als exakter Beweis hinreichend zu sein. Das ist nicht nur praktisch für das Ansehen und den Impact im gesellschaftlichen Diskurs, es ermöglicht auch, die Ansichten des jeweiligen Studienleiters quasiwissenschaftlich zu unterfüttern. Aus einer Meinung wird gesicherte Erkenntnis – oder sie sieht zumindest nach einer solchen aus.

Der Versuch, der Geistes- und Sozialwissenschaften mit Hilfe von Beweisen zu agieren, die an die naturwissenschaftliche Herangehensweise angelehnt sind, ist aber eine zweischneidige Angelegenheit. Er ist für den einzelnen Professor vielleicht in seiner Karriere dienlich und es hilft auch, seinen Ansichten in Gesellschaft und Politik Ansehen zu verschaffen. Allerdings sorgt das natürlich auch für berechtigten Spott bei den Naturwissenschaften, die mit echten Kausalitäten arbeiten und nicht mit zurechtgerechneten. Natürlich ist auch bei den Naturwissenschaften eine Interpretation der Ergebnisse eines Experiments bisweilen eine heikle Angelegenheit. Das betrifft nicht nur solche erwiesenen wissenschaftliche Irrtümer wie obzitierte Phlogistontheorie, sondern beispielsweise wohl auch die immer wieder revidierten Atommodelle oder die Deutung der Heisenbergschen Unschärferelation – allein die durchaus wissenschaftlich gebrauchten Begriffe „Modell“ und „Deutung“ sind da bezeichnend.

Dennoch haben die Naturwissenschaften einen klaren Vorteil, wenn es darum geht, Exaktheit für sich in Anspruch zu nehmen. Umgekehrt ist es aber wohl auch nicht ganz falsch, auch Geistes- und Sozialwissenschaften den Nimbus der Wissenschaftlichkeit einzuräumen – auch und vielleicht gerade dann, wenn sie nicht mit naturwissenschaftsähnlichen Beweisen zu agieren versuchen. Denn die Welt und ihre Wahrheit sind immer eine Deutungsfrage und die läßt sich nicht einmal widerspruchsfrei, geschweige denn abschließend beantworten. Antworten brauchen wir aber trotzdem und die können wir nur durch eine wissenschaftliche, sprich: seriöse und in die Tiefe gehende Analyse bekommen, die von den Naturwissenschaften nicht immer zu bekommen sind.

Welche Wissenschaft?

Das ist aber auch das Problem bspw mit der von Wieser angesprochenen Wiener Verkehrsplanung. Denn natürlich wird man von einem Umweltwissenschaftler in der Frage, ob eine neue Straße gebaut werden soll, eine andere Antwort hören als wenn man einen Ökonomen fragt. Ein Stadtplaner und Regionalforscher hingegen wird wahrscheinlich eine Antwort geben, die dem entspricht, was sich sein Auftraggeber so vorstellt, und allerhöchstens Ratschläge geben, wie man das Vorhaben – in welchem Sinne auch immer – optimieren kann. Und Verkehrsexperten heißen halt nicht alle Knoflacher, sondern werden vielleicht von der Wirtschaftskammer oder der ASFINAG bezahlt. Der Politikwissenschaftler wiederum wird den Entscheidungsträgern erklären können, ob eine Umsetzung der Pläne im Hinblick auf die nächsten Wahlen opportun ist und vielleicht auch, wie man diese Pläne der Öffentlichkeit besser erklären resp. verkaufen kann. Diese Wissenschaftler sind alle hochkompetent in ihrem jeweiligen Fach, doch die Frage bleibt, welches dieser Fächer und welche dieser Experten man als relevant für die jeweils konkrete Situation ansehen soll. Das ist aber dann eine politische Frage, die von Nichtfachleuten entschieden werden muß.

Zum Wohle der Wissenschaft

Egal, welcher Art die Wissenschaft ist, wir müssen als Gesellschaft mit deren Erkenntnissen umgehen und sie bisweilen auch anwenden. Das enthebt uns aber nicht der Pflicht zur Kritik gegenüber diesen Erkenntnissen. Wenn wir als Einzelne vielleicht nicht „vom Fach“ sind, haben wir doch als Einzelne wie als Weltgesellschaft mit den Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen umzugehen. Ich werde sicher beispielsweise einem Virologen nicht sein Fach erklären, aber ich kann ihn fragen, was er zu den Ansichten eines anderen Virologen sagt. Man kann ihm auch die Frage stellen, wer seine Forschung finanziert, wie seine politischen und kommerziellen Verbindungen aussehen und wem er seine Fernsehauftritte verdankt. Und auch wenn man ihm fachlich vertraut, muß man dem jeweiligen Experten fragen, ob die Empfehlungen, die er aus seinen Erkenntnissen ableitet, allein mit seinem Fachwissen ausreichend begründbar sind oder ob es da nicht auch Fachleute anderer Disziplinen bedarf. Denn eines ist auch klar: Fachleute tendieren immer dazu, ihr Fach für das einzig Relevante zu halten, erstens aus ihrem Selbstverständnis und -bewußtsein heraus, aber auch weil es darum geht, ob sie ausreichend pekuniär versorgt werden – schließlich stehen sie ja in Konkurrenz zu anderen Disziplinen, vor allem wenn es um staatliche Förderung geht. Wenn der Virologe, Atomphysiker, Mediziner, Klimaforscher oder auch Soziologe darauf ehrlich antwortet, dann kann man daraus wenigstens den Schluß ziehen, daß er wahrscheinlich seriös arbeitet, sogar wenn er für eine Kapitalgesellschaft tätig ist.

Leider stellen Journalisten nur sehr selten diese Fragen, denn sie erscheinen nicht opportun. Der Wissenschaftler will seine Erkenntnisse präsentieren und nicht hinterfragt werden. Daran orientiert sich auch der Journalist. Solche Interviews sind meistens weniger mit Politikerinterviews zu vergleichen sondern eher mit Audienzen.

Wir als Gesellschaft aber müssen diese Fragen stellen, denn aus den Antworten darauf müssen wir unser Handeln ausrichten können. Genau darum geht es: Wie handelt man nach den Erkenntnissen von Wissenschaftlern, von deren Fach wir nicht immer eine Ahnung haben können?

Müssen wir der Wissenschaft vertrauen? Ja, weil wir nichts anderes haben. Aber das sollten wir nicht blind tun. Und Wissenschaftskritik ist nicht nur deswegen notwendig, um uns vor Schaden zu bewahren, wenn wir Teilen der Wissenschaft unhinterfragt vertrauen, sondern auch deswegen, weil Kritik dazu führen kann, daß vorläufige Erkenntnisse immer wieder überprüft werden und man damit vielleicht zu neuen, aber ebenso nur vorläufigen Erkenntnissen gelangt, die vielleicht dem näher stehen, was man so unter Wirklichkeit versteht.

Wissenschaftliche Institutionen betonen immer die Wichtigkeit ihrer Kontrollprozesse und Peer Reviews, übersehen dabei aber gerne den Effekt, daß einer Überprüfung nur durch einschlägig gebildete Fachleute auch zur Selbstbestätigung einer Community führen kann – auch die Wissenschaft hat ihre Informationsblasen, aus denen sie schwer herauskommt. Gerade Kritik von außerhalb einer einschlägigen Wissensgemeinde dient daher nicht nur dem Wohle der Gesellschaft, sondern auch dem der Wissenschaft selbst. ###

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